Dieser Text ist bereits in der Zeitschrift Intervall(e)s « Réinventer le rythme / Den Rhythmus neu denken », N° 7, 2015 erschienen. Wir danken Vera Viehöver und Michel Delville, dem Chefredakteur der Zeitschrift, für ihre freundliche Erlaubnis, diesen Text hier wiederzugeben.
Vermutlich gehört es in nahezu jeder Kunstform zum Floskelrepertoire der Kritiker, vom „Rhythmus“ eines Werkes zu sprechen : Eine Theaterinszenierung kann ebenso für ihren Rhythmus gepriesen werden wie ein Computerspiel, ein Film ebenso wie eine gelungene Übersetzung, ein Gebäude oder ein Gemälde ebenso wie eine Videoinstallation oder ein Werbeclip. Doch in den meisten Fällen ist die Rede vom Rhythmus nicht mehr als eine Metapher, die besagen soll, dass es im jeweils in Rede stehenden Kunstwerk irgendein Phänomen der Repetition gibt, ein Auf und Ab, eine Wiederkehr des bereits Bekannten, einen planvollen Wechsel von intensiven und entspannten Momenten. Analytische Kraft hat der Begriff nur in seltenen Fällen, am ehesten noch, wenn es um die Beschreibung von literarischen Texten in gebundener Rede oder von musikalischen Kunstwerken geht. Doch wie könnte man aus der wenig spezifischen Metapher ein Instrument der genauen Beschreibung ästhetischer Phänomene machen, und dies jeweils mit Bezug auf eine konkrete Kunstform ? Die Online-Zeitschrift Interval(le)s, das Publikationsmedium des Centre Interdisciplinaire de Poétique Appliquée an der Université de Liège, hat sich zum Ziel gesetzt, „d’étudier les langages littéraires, musicaux et plastiques dans leur spécificité tout en abordant des problématiques communes et transversales à ces différents domaines d’expression artistique“. Hinzu kommen in diesem Themenheft noch weitere Sprachen : filmische, televisuelle und theatrale sowie auch die Sprache des Computerspiels. Gefragt wird in allen Beiträgen, aber mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen, nach dem Gewinn eines qualitativen, nicht-binären Rhythmus-Begriffs für die Analyse von ästhetischen Werken und Phänomen verschiedenster Art.
Die Initialzündung zu diesem Themenheft verdanke ich der unvermuteten Begegnung mit der Critique du rythme (1982) von Henri Meschonnic, einem sprachgewaltigen, energischen und auch polemischen Buch, das das, was es verkünden will, zugleich eindrucksvoll in Szene setzt : Die menschliche Sprache erschöpft sich nicht in einem System von kodierbaren und dekodierbaren Zeichen („langue“), sie ist auch Rede („discours“), Sprache in actu, und damit zugleich Bedeutungsbewegung („signifiance“ im Gegensatz zum „sens lexical“ einer Zeichenstruktur). Was diese „signifiance“ hervorbringt, was Sinn macht, mithin die je spezifische Organisation der Bewegung der Rede im jeweiligen Werk, nennt Meschonnic den „Rhythmus“. Seine zahlreichen Werke kreisen um diesen Begriff und leiten ein antisemiotisches Sprachdenken von ihm ab, das die geläufigen Oppositionen Inhalt vs. Form, Bedeutung vs. Zeichen, signifié vs. signifiant radikal in Frage stellt. „Rhythmus“ ist in diesem Konzept nicht länger ein Element formaler Gestaltung, sondern das, was den Dualismus von Form und Inhalt unterläuft, indem es ihn durchquert. Für Meschonnic ist es das poème – und damit ist bei ihm nicht allein das Gedicht, sondern das poetische Sprachkunstwerk im umfassenderen Verständnis gemeint –, an dem sich die Unzulänglichkeit des dualistischen Rhythmus-Begriffs am deutlichsten zeigt. Dennoch ist sein Rhythmus-Konzept nicht auf das Poetische im engen Sinne beschränkt : Das poème steht vielmehr im Zentrum eines Denkens, das ausgehend von einer „anderen“ Auffassung von Sprache letztlich auf eine Neukonzeption von Ethik und Politik abzielt.
Meschonnic ist also in gewisser Weise der Pate dieses Themenheftes, nicht aber notwendigerweise die theoretische Bezugsgröße für jeden einzelnen der in ihm versammelten Beiträge. Was die Beiträge verbindet, ist nicht ein allen gemeinsamer theoretischer Ansatz oder gar ein von allen verehrter Säulenheiliger, sondern eine gemeinsame Frage : Wie kann man „Rhythmus“ in Bezug auf die je eigene Sprache spezifischer Kunstformen neu konzeptualisieren ? Was kann „Rhythmus“ sein, wenn man mit Émile Benveniste davon ausgeht, dass die Ineinssetzung von rythmos und Maß bzw. Takt eine folgenschwere Festlegung Platons ist, die konkurrierende Bedeutungen des Begriffs rythmos im Verlauf der Geistesgeschichte verdrängt hat ? In einem viel beachteten Aufsatz aus dem Jahr 1951 hatte Benveniste zahlreiche Belege dafür geliefert, dass der Begriff bei den Vorsokratikern gerade nicht in Bezug auf ein regelmäßiges Hin- und Her, beispielsweise das der Meereswellen, verwendet wurde, sondern, so etwa bei Demokrit, als Bezeichnung für das „arrangement caractéristique des parties dans un tout“ (Benveniste 1951/2012, 330) oder, allgemeiner ausgedrückt, für eine „forme distinctive ; figure proportionnée ; disposition“ (Benveniste 1951/2012, 332). Ob Benvenistes Aussagen heutigen etymologischen Forschungsergebnissen standhalten können, [1] ist für das Thema unseres Themenheftes nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist vielmehr, dass Benveniste implizit eine Frage gestellt hat, die nach ihm viele andere umgetrieben hat und die auch heute noch aufregend ist : Was wäre, wenn wir den „Rhythmus“ aus der Umklammerung durch das Metrum lösen und ihn einmal gegen die Tradition denken ? Nicht als das regelmäßig Alternierende, sondern als etwas, das binäre Denkfiguren unterläuft ?
Henri Meschonnic, an dessen Rhythmus-Konzept mehrere Beiträge in diesem Dossier anschließen (Lösener, Costa, Viehöver, Wunsch), ist für diese Fragen nur eine von mehreren Inspirationsquellen. Auch andere, interessanterweise meist französische Denker haben den Rhythmus weiter gedacht – im doppelten Sinn des Wortes. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang neben Marcel Mauss‘ kulturanthropolischen Reflexionen zum Rhythmus (vgl. Michon 2010) und Henri Lefebvres von Bachelard (1950/2013) angeregter „Rythmanalyse“ (Lefebvre 1996) [2] vor allem das berühmte 11. Kapitel „De la Ritournelle [Zum Ritornell]“ aus Mille Plateaux (1980). Deleuze und Guattari entfalten hier ebenfalls ein nicht-binäres Rhythmus-Konzept. „Rhythmus“ ist für sie das, was mit der Entstehung von „Milieux“ aus dem Chaos einhergeht. Jedes dieser Milieus ist durch eine spezifische „composante“ charakterisiert und zudem „vibratoire“, d.h. es ist ein unablässig in Bewegung befindlicher „bloc d’espace-temps constitué par la répétition périodique de la composante“ (Deleuze, Guattari 1980, 384). Deleuze und Guattari sprechen auch von je spezifischen „codes“ der Milieus, die wiederum durch die dem Milieu eigene „répétition périodique“ gekennzeichnet sei. Diese repetitiven Codes sind jedoch ihrerseits nicht statisch, vielmehr befindet sich „chaque code […] en état perpétuel de transcodage“. Daraus resultiert, dass auch die Milieus sich permanent im Übergang befinden. Aus dem Chaos geboren, bewegen sie sich offen im Chaos weiter, das sie sich wieder einzuverleiben droht. Der „Rhythmus“ ist nun für Deleuze und Guattari nichts anderes als der Gegenangriff („la riposte“) (Deleuze, Guattari 1980, 385) der von der Einverleibung bedrohten Milieus gegen das Chaos. Unmittelbar aus dieser Bestimmung des Begriffs „Rhythmus“ leiten sie die Definition des vielzitierten „Zwischenraums“ („l‘entre-deux“) ab : Er ist das, was Chaos und Rhythmus gemeinsam haben, oder anders formuliert : „Changer de milieu, pris sur le vif, c’est le rythme.“ (Deleuze, Guattari 1980, 385) Von diesem Konzept des Rhythmus als des Nicht-Gleichen, des Inkommensurablen, lassen sich mehrere Beiträge in diesem Dossier inspirieren (Egert, Trinkaus, Dupont).
Einige Beiträge sind nicht so sehr aus der Auseinandersetzung mit Theorieansätzen heraus entstanden, als vielmehr aus der historischen Forschung. So zeigt der Beitrag des Musikwissenschaftlers Christophe Levaux, inwiefern der sogenannte „Drone“ (auch Bordun genannt) eine Herausforderung an den traditionellen „Rhythmus“-Begriff darstellt, weil er radikal auf jede Form von Unterbrechung des musikalischen Tons verzichtet. Der Filmwissenschaftler Jeremy Hamers schließlich beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Videokunst Klaus vom Bruchs und zeigt anhand einer genauen Analyse der Zeitstruktur der im Kontext des Deutschen Herbstes entstandenen Schleyer-Bänder I und II Aspekte eines ideologiekritischen Rhythmus-Konzepts auf.
Auf die jeweiligen Inhalte der Beiträge wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen. Für eine überblicksartige Information sei auf die Abstracts in deutscher und französischer Sprache verwiesen, die jedem Beitrag vorangestellt sind.
Bibliographie
- Bachelard, Gaston (1950/2013) : La dialectique de la durée [1950]. 5eéd. Paris : Presses Universitaires de France.
- Benveniste, Émile (1951/2012) : La notion de „rythme“ dans son expression linguistique. Problèmes de linguistique générale, I [1951]. Paris : Gallimard, p. 327-345.
- Deleuze, Gilles ; Guattari, Félix (1980) : Capitalisme et Schizophrénie 2. Mille plateaux. Paris : Éditions de Minuit.
- Lefebvre, Henri (1996) : Éléments de rythmanalyse. Introduction à la connaissance des rythmes. Paris : Éditions Syllepses.
- Meschonnic, Henri (1982) : Critique du rythme. Anthropologie historique du langage. Paris : Éditions Verdier.
- Michon, Pascal (1re éd. 2010-2015) : Marcel Mauss retrouvé. Origines de l’anthropologie du rythme, Paris, Rhuthmos, coll. Rhythmologies.
- Seidel, Wilhelm (2010) : Rhythmus. Dans : Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden. Édité par Karlheinz Barck et al. Édition pour les études. Vol. 5 : Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler, p. 291-314.
Die Herausgeber danken Sabine Hackbarth und Céline Letawe für ihre wertvollen Anregungen und ihre Unterstützung bei der Übersetzung.
Kontakt : Prof. Dr. Vera Viehöver, Université de Liège, Dép. de Langues et Littératures modernes, Littérature allemande, place Cockerill, 3, B - 4000 Liège – Email : vera.viehover@ulg.ac.be