Cet article a déjà paru dans Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart Jg. 8 (2007), Heft 3. Nous remercions Cathrin Nielsen de nous voir permis de la reproduire ici.
Im Oktober 1887, also knapp zwei Jahre vor seinem geistigen Zusammenbruch, schreibt Nietzsche an Hermann Levi in München : „Vielleicht hat es nie einen Philosophen gegeben, der in dem Grade im Grund so sehr Musiker war, wie ich es bin“ [1]. Wenig später vertraut er seinem engen Freund Heinrich Köselitz alias Peter Gast an : es gibt „Nichts, was mich eigentlich mehr angienge als das Schicksal der Musik“ (KSB 8, 275). Und immer wieder finden wir in Nietzsches Nachlass, wie auch in seinen Briefen, den Satz : „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum“ (KSB 8, 280 u. ö.).
Wenn wir einmal davon absehen, dass Nietzsche, wie der eine oder andere auch, eine Affinität zur Musik besaß, dass er selbst komponierte, dass er sein Denken eine gewisse Zeit ganz in den Dienst der Wagnerschen Musik stellte, gegen die später sein Fuß, sein Blutlauf, seine ganzen Eingeweide revoltieren sollten, wie er schreibt, [2]und der dem haltlosen Meer der Wagnerischen Opern schließlich Bizets Carmen vorzog ; wenn wir einmal von diesen biographischen Tatsachen absehen – was bedeutet es, wenn Nietzsche schreibt, er sei als ein Philosoph „im Grunde“ Musiker, es gebe nichts, was ihn als einen Philosophen mehr „angienge“ als das „Schicksal der Musik“, denn ohne die Musik sei das Leben schlechthin „ein Irrthum“ ? Wie ist diese ausdrücklich philosophische Nähe, ja Radikalität der Hinwendung zur Musik zu verstehen ? Ist nicht die Musik der Philosophie gerade darin entgegengesetzt, dass sie sich der philosophischen Explizierbarkeit in einem Gefüge von Gründen, von Begriffen und argumentativen Zusammenhängen entzieht ? Die Musik nennt unserem Ohr niemals Gründe. Es wäre absurd, den in einen Moment der Zeit ausgebreiteten Klang mit dem allgemeinen Begriff in Verbindung zu bringen. Und wo und für was böte die musikalische Phrase ein Argument ? Die Ohnmacht der philosophischen Vernunft vor dem Anspruch der Musik, oder anders herum formuliert : die Unmöglichkeit der scheinbar allein dem subjektiven Empfinden überantworteten Musik, überhaupt in den Bereich des Begriffs vorzudringen, ist offenbar evident. Die Tradition hat dieser inneren Unversöhnlichkeit auch, angefangen bei Platon, über Aristoteles, Kant und Hegel, immer wieder erneut Ausdruck verliehen, bis hin zu Heidegger, der einmal beim Hören einer Sonate von Schubert lakonisch bemerkt haben soll : „Das können wir mit der Philosophie nicht.“ Im Folgenden möchte ich versuchen, mich dieser scheinbaren Unversöhnlichkeit, dem Affront, den Philosophie und Musik füreinander darstellen, sowie Nietzsches spezifischer Antwort auf diesen Affront, zu nähern.
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Beginnen wir zunächst mit einer Unterscheidung, der traditionellen Unterscheidung des Sehens vom Hören oder des Auges vom Ohr. Gemäß dieser Unterscheidung soll das Auge nämlich eine größere Affinität zum Begriff und damit zum philosophischen Wissen haben als das Hören – eine Behauptung, auf die auch Nietzsche implizit zurückgreift, wenn er schreibt : “Das Auge trennt, das Hören verbindet“ (KSA 7, 547). Inwiefern ist das Sehen ein trennender, zergliedernder, analytischer Sinn, das Hören dagegen verbindend ? Und was hat diese behauptete Distanzierungsleistung des Sehens mit der Genese des Begrifflichen zu tun ? In seiner Anthropologie schreibt Kant im Zusammenhang der Behandlung der Sinne, das Sehen sei deshalb der „edelste“ Sinn, weil sich hier das „Organ“, also das Auge, „am wenigsten affiziert fühlt“, und damit einer reinen Anschauung seines Gegenstandes „näher“ komme als alle anderen Sinne. [3] Im Hören dagegen sei uns eine der Anschauung gegebene Gestalt nicht gegeben. Und weil dem Hören der Zugang zu einer solchen Gestalt fehlt, fehlt ihm auch die Möglichkeit zum Begriff, weshalb die Musik letztlich, wie Kant fortfährt, „gleichsam eine Sprache bloßer Empfindungen (ohne alle Begriffe) ist“ (Anthropol. § 18).
Das Sehen soll also darin den Vorrang vor dem Hören haben, dass es die am wenigsten berührte, von irgendwelchen Affekten oder Empfindungen freieste Sinnestätigkeit ist. Es hat nach Kant die Fähigkeit, bei sich zu bleiben, während wir beim Riechen, Schmecken, Tasten oder eben beim Hören in einem viel stärkeren Maße affiziert, ja buchstäblich in die Berührung hineingezogen werden. Das Auge dagegen nimmt, um zu sehen, Abstand, denn nur wenn es gleichsam einen Schritt zurück tut, ist es in der Lage, einen Gegenstand in seiner ruhenden, seiner räumlichen „Gestalt“ zu erfassen. Bliebe das Sehen abstandslos, würde das Auge sich also nicht so weit von seinem Gegenstand entfernen, bis es an einem Umriss, einem „Object“, wie Kant sagt, zu Ruhe kommt, bliebe es ebenso gestalt- und begrifflos wie das Hören, ein flirrender, in den Moment gebundener Wirbel von Licht, Schatten und Farbe. Es gliche etwa dem Zustand, in den man gerät, wenn man aus einem abgedunkelten Raum in das gleißende Sonnenlicht tritt : Das Auge ist für einen Moment lang so geblendet, dass man im eigentlichen Sinne nichts sieht. Diese Total-Affektion hat Kant im Blick, wenn er schreibt, dass jede Form der äußeren Vorstellung zusammenbricht, wenn die Empfindung so stark wird, dass sich das Bewußtsein nur noch auf die Berührung selbst, in diesem Fall auf den Angriff des Lichtes auf das Auge, richten kann, und die „Beziehung auf ein äußeres Object“, wie er sagt, also auf einen von mir unterschiedenen Gegenstand, unmöglich geworden ist.
Der Vorgang des Sehens impliziert also gewissermaßen einen Übersprung der inneren Affektion in eine äußere Vorstellung, anhand derer das Sehen erst im eigentlichen Sinne zum Sehen, nämlich zum Sehen-eines-Etwas wird. Die Möglichkeit des Begriffs beruht auf dieser Übersprungsleistung insofern, als jeder Begriff ein Etwas, eine für sich umrissene Gestalt und mit ihr verbunden die Distanz voraussetzt. Sich von Etwas einen Begriff machen kann man nämlich nur, wenn man dieses Etwas aus der Konstellation des Augenblicks herausnimmt und über den Moment hinaus festhält, sozusagen als bereits verarbeitete Sinneserfahrung apriorisch in sich verankert. Derjenige dagegen, der sich immer neu vom Spiel der Lichter, Schatten und Farben, vom willkürlichen Andrang der Töne, vom dunklen Widerstand des Getasteten, und das heißt von seiner kontingenten Sinnesempfindung mitreißen lässt, kommt, wie Kant kategorisch formuliert, weder zum Objekt noch zum Begriff.
Das Sehen ist als eine solche abständige Sinnesleistung zugleich mit dem Begriff des Raumes verknüpft. Das Räumliche an der äußeren Vorstellung bedeutet zunächst einmal das Moment ihrer Ruhe ; sie zehrt davon, dass das unruhevolle Hin und Her unserer Affektivität, und tiefer gesehen die absolute Unruhe der Zeit, in ihr gleichsam aufgehoben sind. Sie sind zwar nicht völlig negiert, aber doch so weit vergleichgültigt, dass sie uns in Form einer geschlossenen Gestalt gegenüber treten können. Sobald eine Sache ein Gesicht bekommt (aus einem Abstand heraus gesehen werden kann), verliert sie ihre ausschließliche Macht. Nietzsche spricht an einer Stelle von dem „indifferenten“ oder „schmerzlosen Punkt“ (KSA 7, 164 f.), von dem aus allein wir den Sprung aus dem unruhevollen Strom von Zeit und Empfindung in eine solche räumliche Vorstellung leisten können. Mit diesem Punkt wird die Zeit respektive die Empfindung nicht nur negiert, sie wird auch greifbar. Und zwar deswegen, weil wir sie in der Übersetzung in den Raum verbildlicht, ihr ein Antlitz gegeben haben. Die Zeit, vom Raum her gesehen, ist jetzt nichts anderes als eine Linie, eine fortgesetzte Aneinanderreihung von solchen schmerzlosen Punkten.
Wie jedoch dieser Sprung in den Raum überhaupt möglich ist, das heißt, wie und warum die Zeit gleichsam angehalten und in eine stehende Gegenwart übersetzt werden kann, bleibt im Dunklen. Und zwar nicht zuletzt deswegen, weil der Sprung in das Räumliche sich im Vollzug gleichsam verschließt und darin zu einem Immer-schon-gewesenen wird. In gewissem Sinne greifen wir im Bild stets auf diesen ‚Fluchtpunkt’ als das durchgängig Bleibende und Versammelnde zurück. Er bildet das Moment, in dem wir im höchstmöglichen Maße berührungslos geworden sind, sozusagen das Ur-Atom, das in sich fest verschlossene, abgerundete, schlechthin nicht mehr tangierbare atomon all unserer weiteren, darauf aufbauenden Vorstellungen. Weil auf diese Weise unser eigentlich dem unaufhaltsamem Strom der Zeit ausgesetztes Empfinden in sich auf etwas zurückgreifen kann, was bleibt, ja was sogar, wie der unendlich auf sich zurückverweisende Punkt, immer schon gewesen sein muss, um dieses Bleiben über den Moment hinaus zu gewährleisten, kann man davon sprechen, dass wir dort, wo wir die unmittelbare Empfindung verlassen, in ein eigentümlich mit dem sichtbaren Raum verschlungenes Perfekt eintreten.
Das rationale Denken steht in Europa deswegen unter der Vorherrschaft des Auges, weil in ihm diese Apriorität unseres ganzen Seins, die streng genommen auf einem nicht mehr explizierbaren jähen Übersprung von der Zeit in den Raum, von der Empfindung in die Vorstellung, basiert, [4] am klarsten hervortritt. Die Philosophie nennt diese Apriorität seit jeher die Vernunft. Nur durch seine innere Intellektualität, seine intime Nähe zum Raum, gewinnt das Auge der Vernunft den notwendigen Abstand zu den Dingen, was zugleich bedeutet, dass es Abstand gewinnt von jener abgründig verschlingenden Affektivität, die ihm vorausgeht.
Wie verhält es sich dagegen beim Hören ? Auch das Hören, so könnte man zunächst einwenden, ist immer ein Hören-von-Etwas. Man hört nicht schlechthin, sondern man hört eine zuschlagende Tür, ein Martinshorn, einen Amselruf, einen Satz. Näher besehen erweist sich jedoch dieses intentionale, also bestimmte Hören als vermittelt durch das Sehen, genauer durch das innerlich schon Gesehen-Haben dessen, was eine Tür, ein Martinshorn, eine Amsel jeweils sind. Wir haben, wenn wir hören, schon immer etwas vor Augen, zwar nicht faktisch, aber ideell (das Wort Idee hat eine optische Wurzel, es kommt von griechisch ideîn : erblicken, erkennen). Man hat also bereits einen Begriff von der Sache, und in dieser Hinsicht scheint das Hören jene Distanzierungsleistung, die im Sehen offenkundig wird, und die allein erlaubt, dass sich die Dinge in einem klaren Licht zu erkennen geben, schon zu implizieren. Auch die Sprache zeigt sich von hier als ein Phänomen, in dem Sehen und Hören, Bild und Laut, schon immer eine ganz bestimmte Verbindung eingegangen sind. Das Wort ‚Amsel’ vernehme ich nicht lediglich als einen Laut, sondern ich greife im Zuge des Hörens auf das durch die äußere Vorstellung vermittelte innere Bild, den Begriff, den Umriss, die Idee dieses schwarzen Vogels zurück. (Die Schlichtheit dieses Satzes sollte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser ‚Rückgriff’ mit zum Rätselhaftesten im Skelett unserer Sinnlichkeit gehört).
An eine gewisse Grenze dieser optischen Vermitteltheit gerät das Hören jedoch bei Worten, die wir nicht verstehen, oder bei Geräuschen, die wir nicht zuordnen können. Hier wird das Ohr (mit Kants Worten) von der Bezugnahme auf ein äußeres Objekt zurückgeworfen auf das Gewahren der „Bewegung des Organs“, das heißt die akustische Affektion selbst. Das Horchen, wie man die intensivierte Form des Hörens auch nennen könnte, ist ohne Idee, ohne Schon-Gesehen-Habendes, sondern ganz und gar auf das, was es in Beschlag nimmt, geöffnet. Eben diese Überantwortung an einen Anspruch, der unsichtbar bleibt, und der uns zu distanzlos Horchenden macht, der uns der Berührung selbst unterwirft, tritt am reinsten in der Musik hervor. Das Material der Musik ist nicht die Gestalt, sondern der Klang und die Zeit, nicht der Punkt, sondern die in sich erzitternde Schwingung. Um hier wirklich zu hören, darf man sich nicht an die Erscheinung heften, weil sich sonst das, was die Musik zu dem macht, was sie ist, nämlich eine Organisation der Zeit, nicht des Raumes, wie das Bild, entzieht. In der Musik tritt die Bewegung der affektiven Sinnlichkeit also nicht hinter der Bezugnahme auf eine äußere Vorstellung zurück, sondern sie öffnet sich unmittelbar, ohne irgendeine Überbrückung durch das Objekt (das Entgegengeworfene : ob-jectum), auf die innere, nicht in den Raum übersetzte, und damit in gewissem Sinne vor-weltliche Natur der Zeit. Wenn wir Kants Worte zum Sehen umgekehrt auf das Hören beziehen wollten, wäre also jetzt das Hören der „edelste“ Sinn, weil sich hier das „Organ“, also das Ohr, „am meisten affiziert fühlt“, und sich damit von der Anschauung seines Gegenstandes, von der distanzierten Versenkung in seine Gestalt, seinen Umriss, so weit wie möglich entfernt. Je mehr man sich im Hören jedoch von der Vorstellung konkreter Dinge entfernt, je mehr sie ihren Umriss verlieren und verschwimmen, je mehr das Ohr also „verbindet“, wie Nietzsche sagt, wo das Auge „trennt“, desto mehr versinkt auch jene Grenze zwischen Innen und Außen oder zwischen Subjekt und Objekt, die für das Sehen und das am Sehen orientierte Denken konstitutiv ist. Die durch das Ohr eindringenden Rhythmen und Klänge bewegen zuletzt nicht nur das Ohr als einzelnes Organ, sondern sie erfassen die gestaltlose Lebendigkeit des Innern überhaupt. Sie zerfahren die alltäglich gelebten, am Anschaulichen gebildeten Ordnungen, und setzen sie zurück in das ziel- und endlose Hin und Her unserer affektiven Sinnlichkeit. Es ist ihre im reinen Tönen erzitternde Materialität, die der Musik von Anfang an den Zutritt zum Reich des Begriffs verwehrt. Wo die Musik an das Gestaltlose und damit auch Unvermittelbare für den allgemeinen Gedanken anstößt, erlischt traditionell ihre Relevanz für die Philosophie.
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Nietzsche nun stellt diese traditionelle Hierarchie der Sinne bzw. die Rangordnung von Begriff und Musik auf den Kopf – oder auf die Füße, je nachdem –, wenn er schreibt : „Die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, [kann] nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach außen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlässt, in einer nur äusserlichen Berührung“ (KSA 1, 51) befangen. Nicht die Musik versagt hier im Angesicht der begrifflich transparenten Welt der Erscheinungen, sondern umgekehrt : der Begriff vermag als ein bloßes Werkzeug der Erscheinungen das Wesen der Musik nur ganz äußerlich, wenn überhaupt, zu berühren. Er ist gerade aufgrund seiner veranschaulichenden Struktur, seiner Verfangenheit in das distanziert Optische, ohnmächtig, das Innere der Musik zu erfassen. Mit einem Mal tritt also die Musik an die Stelle des inneren Wesens der Welt, wohingegen der traditionell der Erfassung dieses Wesens zugeordnete Begriff zu einem in sich beschränkten, der Welt der bloßen Erscheinungen zugeordneten Instrument herabsinkt.
Um diese bekanntlich bei Schopenhauer vorbereitete Umkehrung zu verdeutlichen, möchte ich im folgenden den Rhythmus behandeln als eine von Nietzsche der abendländischen Dominanz des Optischen entgegengestellte Weise, die Zeit, genauer ihre rhythmische Artikulation, zum Grund unseres Selbst- und Weltverhältnisses zu nehmen. Nach dem oben Zitierten soll also die Musik dem Begriff und der in ihm bewahrten Erscheinung darin übergeordnet sein, dass sie in einer elementareren Weise an unsere innere, unmittelbar mit der Zeiterfahrung verknüpfte Lebendigkeit rührt als der Begriff. Diese vorveräußerte Lebendigkeit nennt Nietzsche in Anlehnung an Schopenhauer auch den Willen. Er schreibt : „Was thut die Musik ? Sie löst eine Anschauung in Willen auf. Sie enthält die allgemeinen Formen aller Begehrungszustände : sie ist durch und durch Symbolik der Triebe, und als solche in ihren einfachsten Formen (Takt, Rhythmus) durchaus und jedermann verständlich“ (KSA 7, 23). Was tut also die Musik ? Sie übersetzt die Welt der äußeren Erscheinungen, also jene Welt, in der wir sicher herumgehen, in der wir ein oben und unten, ein rechts und links, ein hinten und vorne, ein früher und später usw. kennen, in der wir Dieses von Jenem unterscheiden und uns selbst darin positionieren können, das heißt die Welt, von der wir uns einen Begriff gemacht haben und die darin anschaulich vor uns liegt, diese Welt löst sie „in Willen“ auf. Was „Willen“ ist, erläutert Nietzsche hier nicht weiter, aber er fügt verdeutlichend hinzu : „Begehrungszustände“ bzw. „Triebe“. In der Regel treten einem das Begehren, das Wollen, die Triebe als bestimmte entgegen : man will oder begehrt Dieses oder Jenes, es treibt einen Hierhin oder Dorthin usw. – die Affekte haben also ein Gesicht in Form von Leidenschaften, gerichteten Begierden und Bedürfnissen und führen damit zugleich ein Sammelsurium an bestimmten Möglichkeiten mit sich, sie zu befriedigen. Sofern aber die Musik die Anschauung „auflöst“, wie Nietzsche sagt, tritt auch die Bestimmtheit dieser Willensbekundungen in den Hintergrund. Ähnlich wie oben beim Horchen beschrieben, in dem wir nichts Anschauliches mehr vor Augen haben, ist auch das „Wollen“, das sich in der Musik auftut, ein von der Welt der Erscheinungen her unbestimmtes, richtungsloses, nur auf sich selbst als reine Bewegtheit gerichtetes Wollen. Als solches ist es „jederman verständlich“, das heißt, es ist keiner weiteren Begründung bedürftig (oder sogar fähig). Allerdings soll dieses Wollen in der Musik nicht ordnungslos schlechthin sein, sondern seinerseits durch „Symbolik“, also durch „allgemeine Formen“, von denen der „Takt“ und der „Rhythmus“ die „einfachsten“ sein sollen, bestimmt. Wie ist diese formale Symbolik, die nicht für das Auge ist, also optisch vermittelt, sondern über so etwas wie rhythmische oder metrische Verhältnisse, genauer zu verstehen ?
In einer Nachlassnotiz aus den siebziger Jahren spricht Nietzsche in Bezug auf die musikalische Rhythmik auch von „’Intermittenzformen’ des Willens“ (KSA 1, 574). Lateinisch intermittere bedeutet so viel wie ‚aussetzen’, ‚unterbrechen’. In der Musik bleibt das Wollen bzw. die Affektivität nicht vollständig bei sich, sondern ist in sich „intermittiert“, gewissermaßen in sich unterbrochen, wenn auch in einem anderen Sinne als durch die Übersetzung ins Räumlich-Optische, die mittels des Auges, das dann zum Auge des Geistes wird, stattfindet. Während die Distanz dort nämlich durch eine Entfernung vom Affekt zustande kommt, verbleibt jene Unterbrechung hier im Bereich der Affektivität, genauer : sie entspringt dem in die Zeit ausgebreiteten Spiel der Willensregungen von Lust und Unlust. Dieses Willensspiel zwischen Lust und Unlust als eines von Dynamik und Intermittenz beschreibt Nietzsche folgendermaßen : „Die Lust ist eine Art von Rhythmus in der Aufeinanderfolge von geringeren Schmerzen [...], eine Reizung durch schnelle Folge von Steigerung und Nachlassen, wie bei der Erregung eines Nerven [...], und im Ganzen eine aufwärts sich bewegende Curve : [...]. Die Unlust ist [dagegen] ein Gefühl bei einer Hemmung“ (KSA 11, 222). Bei der Lust handelt es sich also um einen Zustand der „Erregung“, genauer : einen Zustand der fortwährend gereizten und darin unablässig sich in sich selbst vertiefenden Affektion. Ihr innerer Rhythmus kennt nur ganz geringfügige Grade der Hemmung, näher besehen nur solche, die dazu dienen, die rasche, nie in die Bewusstheit übertretende Aneinanderreihung von Anschwellen und Zurücksinken immer weiter zu intensivieren. Die Lust ist in ihrem Wesen unumgrenzt, sie hat die Tendenz, alle Formen der Endlichkeit gleichsam mit sich mitzureißen und sich ins Unendliche auszuströmen. Jeder Widerstand führt hier allein dazu, das potenziell ins Unendliche ausgreifende Anschwellen dieser Erregung nicht erlahmen zu lassen, was zugleich bedeuten würde : sie im Hinblick auf irgend etwas zur Gestalt zu bringen. Dieses dem reinen Vorwärtsdrängen der Lust entgegengesetzte ‚Irgendetwas’ könnte – als Beispiel – beim Künstler der Punkt bedeuten, von dem die Dimensionalität eines Bildes ihren Ausgang nimmt, oder beim Musiker der erste, sich einstellende Widerstand im Klanglichen, aus dem die Melodie geboren wird, oder wieder anders im Geschlechtlichen die Zeugung eines Kindes, in dem sich die Lust ein Gesicht verschafft. Sofern dieser Tendenz auf Entgrenzung, der potenziell unendlichen „Curve“ nach aufwärts, jedoch nichts entgegengesetzt wird, verwandelt sie sich in eine tödliche Negativität – Kant zumindest formuliert im Blick auf diese Tendenz den auf den ersten Blick paradoxen Gedanken, dass aus einer ungehinderten, „kontinuierlichen Beförderung der Lebenskraft“ ein „schneller Tod vor Freude“ (Anthropol. § 60) folgen würde. In der tiefen Intensität oder Abstandslosigkeit der Lust gegen sich selbst liegt nämlich, dass sie nicht „thätig“ wird, das heißt, dass sie aufgrund des fehlenden Widerstandes keine Notwendigkeit verspürt, jene Form der Übersetzungsleistung zu vollbringen, die die Grundbedingung aller organischen Lebendigkeit darstellt. Die Lust als „Kitzel“ bleibt ihrer Tendenz nach ebenso „unthätig“ wie gesichtslos, so gesichtslos, dass Nietzsche zuletzt fragen kann : „Was ist Lust [eigentlich], wenn nur das Leiden“, das heißt jene Erfahrung des Widerstandes, „positiv ist ?“ (KSA 7, 216). Ist die reine, ununterbrochene Lust zuletzt nicht anderes als Hegels in Bezug auf die absolute Freiheit formuliertes Wort von der ‚Furie des Verschwindens’ ?
Der Schmerz oder die Hemmung dagegen sind nämlich „positiv“ darin, dass das Leben sich hier, wie Nietzsche sagt, „bewußt werden kann“. Alles organische, und das heißt, alles gerichtete, gebundene Leben hat in sich eine Art Instinkt nach Widerstand, weil nur die Hemmung, das Einhalt-Gebieten jenes gesichtslosen, überschießenden Lustgefühls Leben als einen Zusammenhang von bestimmten Bewegungen, also das Organische überhaupt hervortreten lässt. Ohne Schmerz verbleibt das Leben im Zustand der Indifferenz befangen – dies bedeutet eben jener von Kant ins Spiel gebrachte tödliche Aspekt der Lust.
Jeder Rhythmus als eine sich umschließende Bewegung gründet somit auf einem sich dieser urtümlichen Lustbewegung entgegenstellenden Moment der Hemmung. Im Gefühl des Widerstandes, der einen Bruch der potenziell unendlich mit sich selbst befassten Lust darstellt, tritt das Leben zu sich selbst in einen Bezug ; daher beginnt der Mensch sich bereits in seinen ersten Lebensstunden von seiner vergangenheitslosen (ungebundenen) Indifferenz und Offenheit wegzuarbeiten, das heißt, jenen perfektiven, apriorischen Raum in sich einzubilden, der ihn zu einem diskontinuierlichen Individuum macht. Der Prozeß der Individuation wäre demnach zuletzt so etwas wie ein zunehmend in sich verbundener Komplex schmerzhafter „Unterbrechungen“ ; ohne solche bliebe das Leben gewissermaßen im Anorganischen befangen – deshalb fährt Nietzsche fort : „Es giebt einen Willen zum Leiden im Grunde alles organischen Lebens“ (KSA 11, 222).
Die „Intermittenzformen“, deren einfachste der Takt und der Rhythmus sein sollen, sind also dadurch charakterisiert, dass sie die kontinuierliche, ungestillte Bewegung nach vorn – mit anderen Worten die Zeit – gewissermaßen anhalten und in einen Moment der bestimmten Dauer überführen. Das griechische Wort rhythmos bedeutet zunächst lediglich das Moment der Distinktion und impliziert darin so etwas wie die Abstandnahme einer einförmigen Bewegung von sich selbst. Das Leben in seiner Vieldeutigkeit, seinen Übergängen und Schattierungen wäre nicht möglich, wenn es nur eine Bewegungsrichtung gäbe, die nach vorn. So wäre beispielsweise das Phänomen der Erinnerung, das elementar ist für jede Form gegliederter Zeitlichkeit, ohne eine Bewegung, die sich dem reinen Strömen entgegenstellte, die aus ihm gewissermaßen zurückschnellte, unmöglich. Es ist dieses Widerspiel, was in der Musik zutage tritt, denn einem gewissen Sinn ist Musik nichts anderes als aufeinander zugeordnete Bewegung, und das bedeutet zugleich : auf einander zu geordnete Zeit. Und weil allein diese Zuordnung etwas bewußt werden lässt, kann Nietzsche sagen, der Rhythmus sei tiefer besehen eine „Form des Werdens, überhaupt die Form der Erscheinungswelt“ (KSA 7, 523).
Im Gegensatz zu Schopenhauer (und an ihn anknüpfend Richard Wagner) tritt in der Musik also für Nietzsche nicht der Wille in seiner reinen, ungebrochenen Form in Erscheinung ; in ihr spricht sich vielmehr eine bestimmte und zwar fundamentale Organisation unserer Sinnlichkeit und damit unseres ganzen Seins aus. „Der Mensch ist ein rhythmen-bildendes Geschöpf“, heißt es im Nachlaß der achtziger Jahre, das Rhythmenbilden ist „seine Art, sich der ‚Eindrücke’ zu bemächtigen“ (KSA 10, 651). Er bemächtigt sich der Eindrücke dabei nicht, oder zumindest nicht zuerst, mittels des in der Tradition favorisierten Distanzsinnes eines einzigen Organs, des Auges, sondern durch Artikulation seiner ganzen Leiblichkeit und jener sie durchherrschenden Vitalität, die formal betrachtet nichts anderes darstellt als ein Widerspiel von Dynamik und Intermittenz, von Lust und Schmerz, oder wieder anders gewendet, von Ausströmen und Gehemmtwerden, von offener und gebundener Zeit. Die zwei, wie Nietzsche sagt, „anthropomorphischen Hauptäußerungen“, nämlich der „Gang“ und die „Sprache“, geben davon unmittelbar Zeugnis. Ob der Gang ein freies Ausschreiten ist, ein zögerndes Taumeln oder ein wirbelnder Tanz, verrät etwas von der Weise der in ihm gegliederten Zeit. Das Tempo, der Tonfall, die Rhythmik und Färbung des Sprechens, ob es ein Stammeln ist oder ein Befehl, Beschwörung oder Gesang, weist über die informative Begrifflichkeit eines Satzes hinaus auf den affektiven, vorbegrifflichen Untergrund alles Sprechens : „Alle Lust- und Unlustgrade – Äußerungen eines uns nicht durchschaubaren Urgrundes – symbolisiren sich im Tone des Sprechenden“ (KSA 7, 360). Lange bevor sich der Mensch also als ein animal rationale, als ein mit dem Auge der Vernunft ausgestattetes Lebewesen etabliert, ist er in der Vielzahl seiner artikulierten Lebensformen, in seiner ganzen Bewegungsökonomie, eine, wie Nietzsche sagt, „Erscheinung der Musik“ (KSA 7, 317).
Wie verhält sich diese tonale und rhythmische, auf unsere Affektivität zurückweisende Symbolik der Musik nun genauer zum Begriff ? Ist nicht auch sie demnach gegliedert, durch Differenzierungsleistungen artikuliert und darin vorstellend oder zumindest darstellend ? Unterläuft Nietzsche damit nicht jenen ursprünglich anvisierten Auflösungscharakter der Musik, ihre Radikal-Entgrenzung und damit äußerste Entfernung vom Bilder schaffenden Auge und dem dieser Verbildlichung entspringenden Begriff ? Ja und Nein. Ja, insofern er gegen Schopenhauer einwendet, dass „auch das gesammte Triebleben, das Spiel der Gefühle Empfindungen Affekte Willensakte [...] uns [...] bei genauester Selbstprüfung nur als Vorstellung, nicht seinem Wesen nach, bekannt“ (KSA 7, 361) ist. Die Trennung zwischen einer Welt des Willens, die sich in der Musik adäquat zur Erscheinung bringt, und einer durch das principium individuationis gezeichneten Welt der Vorstellung, ist für das Leben nicht haltbar, aus dem einfachen Grund, weil wir die Vorstellung im basalen Sinne einer ersten Gliederung der Zeit, nicht loswerden können, ohne uns selbst loszuwerden. Nicht nur das Auge symbolisiert, auch das Ohr bzw. der Vitalsinn überhaupt als Antagonismus von Unlust und Lust ist nicht affektiv schlechthin, sondern schöpferisch in dem Sinne, dass er die Eindrücke rhythmisiert, dass heißt, sich ihrer durch das Widerspiel von Aneignung und Widerstand bemächtigt. Die Symbolik für das Auge, oder das Bild, ist von der Symbolik für das Ohr, dem Rhythmus, jedoch für Nietzsche auf der anderen Seite dadurch unterschieden, dass das Bild auf einer Negation der Zeit bzw. der Affektivität basiert, während der Rhythmus in gewissem Sinne ein Produkt der Zeit selbst darstellt. Mit anderen Worten : die Rhythmik überspringt ihre Herkunft (die affektive Bewegung) nicht, sie entspringt der Bewegung und wendet sich gliedernd auf sie zurück. Wie ist das zu verstehen ?
Zunächst ist daran zu erinnern, dass das, was Nietzsche unter ‚Bild’ versteht, nicht etwa durch die moderne Malerei charakterisiert ist (die moderne Kunst unterläuft gerade diese gegenständliche Bindung des Sehens), sondern in seiner deutlichsten Form durch jene Visualisierung und Vergegenständlichung, wie sie durch die moderne Wissenschaft betrieben wird. Deren Methodik gründet nämlich auf einer gewissen Ausschaltung der affektiv empfundenen (und damit unwiederholbaren und unverrechenbaren) Zeit, insofern diese nun in einer gewissen Angleichung an Verhältnisse des Raumes als ein ebenso homogenes wie verlässliches Zeitkontinuum gedacht wird, in das alle Begebenheiten eingeschleust werden müssen, um als empirische Objekte gelten zu können. Die homogene Linearzeit – auf den Raum projiziert : die Linie – basiert darauf, dass die unendlich verschiedenen, in den individuellen Antagonismus von Lust und Unlust verflochtenen qualitativen Zeitrhythmen in ein quantitatives Schema übersetzt werden. Das heißt, ihre innere flirrende Übergängigkeit wird im Hinblick auf ein immer schon Beharrendes festgestellt, auf eine Gegebenheit, auf die jederzeit und an jedem Ort zurückgegriffen werden kann. Wo das nicht möglich ist, das heißt, wo der punktuelle Moment sich nicht im nächsten auf eine berechenbare Weise fortsetzt, wo die Zukunft nicht durch das dem sichtbaren Raum eingeschriebene Perfekt schon immer überholt ist, kann es keine Wissenschaft geben.
Im Gegensatz zu dieser geregelten, nach außen gewendeten Zeit der empirischen Vorstellung ist diejenige Zeit, die Nietzsche mit dem Rhythmus des Leiblichen, dem Hören und der Musik zusammenbringt, offenbar eine innere, sozusagen auf ihre affektive Natur hin geöffnete Zeit. Während die temporale Struktur des Sehens durch die vor-läufige Apriorität des Perfekts charakterisiert ist, ist eine solche Bindung der inneren, regellosen Natur der Zeit fremd. Als gleichsam in ihre reine Zukünftigkeit überschießende greift sie auf kein erstes Beharrliches in sich zurück, sondern ist wie die Lust zunächst nichts als der unablässig sich ablösende Reiz-nach-vorne, Tendenz auf Mehr. Was bedeutet es aber nun für Nietzsche, dass der Rhythmus als die Symbolik des Ohrs eben keinen solchen apriorischen Punkt vorfindet, sondern diesen selbst je neu und je anders entspringen lässt ? Was ist mit der Zurückübersetzung der Verhältnisse des Raumes in diejenigen der Zeit (und damit der Empfindung) gewonnen ?
Denken wir an die eingangs zitierte Unterscheidung Kants zurück, wonach das Sehen den Vorrang vor dem Hören darin haben soll, dass es im Gegensatz zu diesem sich „am wenigsten affiziert fühlt“, weil in ihm das „Bewußtsein der Bewegung des Organs“ hinter dem der „Beziehung auf ein äußeres Objekt“ (Anthropol. § 19) zurücktritt. Das „Bewußtsein der Bewegung des Organs“, das heißt die Fähigkeit, affiziert zu werden, kann so anhaltend hinter der Bezugnahme auf äußere Objekte zurücktreten, dass schließlich eine Apathisierung der gesamten Vitalität eintritt. Nach Nietzsche befindet sich eben die Moderne im Zustand einer solchen tief greifenden „Willenslähmung“ (KSA 5, 138), das heißt einer Disgregation jener oben genannten formen- und rhythmenbildenden Kraft, mittels derer es überhaupt so etwas wie eine menschliche Welt gibt. Sein Versuch, sich vermittelt über die Musik auf die Bewegung der Affektion selbst zu richten, und damit den eigentümlich mit dem Zeitempfinden verflochtenen Sprung, den die Seele leisten muss, um für sich selbst wirklich zu werden, ans Licht zu heben, dient somit einer Aufklärung jenes scheinbaren Apriori, das das Auge der Vernunft darstellt. Nur in seinem Gewordensein und damit seiner dunklen Offenheit gegen die Zeit, liegt die Möglichkeit lebendiger Vernunft. Von der Symbolik des Auges unterscheidet demnach die Symbolik für das Ohr, dass diese nicht auf Verhältnissen der Sichtbarkeit gründet, sondern auf Verhältnissen der Zeit, eben auf Rhythmen, und zwar nicht auf logifizierbaren, sondern auf individuell geleisteten und gelebten Rhythmen. Auf der anderen Seite warnt Nietzsche davor, in der Affektivität schlechthin die Lösung gegen die Objektivierungstendenzen des Auges zu finden. Von hier aus soll abschließend ein kurzer Blick auf Nietzsches bissige Behauptung geworfen werden, die moderne Musik, also „unsre Art Rhythmik“, gehöre „in die Pathologie“ (KSB 3, 404 f.).
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Dazu greife ich auf eine etwas längere Notiz Nietzsches aus seiner Spätschrift Nietzsche contra Wagner zurück. In einem dieser „Aktenstücke eines Psychologen“, wie es im Untertitel heißt, schreibt Nietzsche :
„Die Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark, aber undeutlich, ‚unendliche Melodie’ genannt wird, kann man sich dadurch klar machen, dass man in’s Meer geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem Element auf Gnade und Ungnade übergiebt : man soll schwimmen. In der älteren Musik musste man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wieder, Schneller und Langsamer, etwas ganz Anderes, nämlich tanzen. Das hierzu nöthige Maass, das Einhalten bestimmter gleich wiegender Zeit- und Kraftgrade erzwang von der Seele des Hörers eine fortwährende Besonnenheit, – [...] – Richard Wagner wollte [dagegen] eine andre Art Bewegung, – er warf die physiologische Voraussetzung der bisherigen Musik um. Schwimmen, Schweben – nicht mehr Gehn, Tanzen… Vielleicht ist damit das Entscheidende gesagt. Die ‚unendliche Melodie’ will eben alle Zeit- und Kraft-Ebenmässigkeit brechen [...] –, sie hat ihren Reichthum der Erfindung gerade in dem, was einem älteren Ohr als rhythmische Paradoxie [...] klingt. Aus einer Nachahmung, aus einer Herrschaft eines solchen Geschmacks entstünde eine Gefahr für die Musik, wie sie größer gar nicht gedacht werden kann – die vollkommene Entartung des rhythmischen Gefühls, das Chaos an Stelle des Rhythmus“ (KSA 6, 421 f.).
Die „physiologische Voraussetzung“ der alten Musik soll also das, einer bestimmten Zusammenordnung der Zeitgrade entspringende „Maass“ gewesen sein, das in der „Seele“ des Hörers, wie der Psychologe Nietzsche sagt, eine „fortwährende Besonnenheit“ erzwang. Die bereits im Spiel der Muskeln und Bewegungen in Erscheinung tretende, an sich ganz offene und überschießende Vitalität des Leibes wurde im Hören der musikalischen Rhythmen gebändigt und in Form gebracht – ein Gedanke, den auch Platon ins Zentrum seines Alterwerkes Nomoi rückt. Die unendlich vielfältigen, jedoch in sich zwingend auf die Seele einwirkenden Zeit- oder Bewegungsordnungen führen nämlich dazu, dass sich der Mensch auf vielfältige, aber in dieser Vielfalt nie beliebige Weise selbst gegenwärtig werden kann. Eine solche Vergegenwärtigung seiner selbst lässt sich als Ethos verstehen, als Haltung, als verkörperte, in der Besonnenheit, die keine wissenschaftliche, sondern eine ethische Kategorie darstellt, wurzelnde Lebendigkeit. Der Mensch wird sich hier nicht als Subjekt, das den Dingen unberührt gegenüber steht, gegenwärtig, das heißt mittels eines von seiner Leiblichkeit und Affektivität losgelösten Auges der Vernunft, sondern als ein lebendiger, jedoch in dieser Lebendigkeit endlicher Zusammenhang von Rhythmen, mit anderen Worten : im sinnlichen Zusammenspiel von einander ergänzenden und korrigierenden Lebensformen. Es ist diese lebendige Endlichkeit, die Nietzsche gegen die Musik Wagners geltend macht. Die ununterbrochene, endlose Melodie, die die Seele nicht gehen und tanzen lässt, sondern der verfließenden Indifferenz des Ozeans übergibt, ist deshalb die „größte Gefahr“, weil sie die tiefe, gleichermaßen schöpferische wie verwüstende Chaotik unserer überschießenden Affektivität verkennt, und glaubt, im Affekt selbst, im irgendwie wogenden Gefühl, läge bereits eine lebbare Alternative zum sezierenden Auge der Vernunft. So fasst der Philosoph Nietzsche für seine Auffassung der Musik zusammen : „Von meiner Musik will ich nur eins, dass ich damit Herr über eine Stimmung werde, die, ungestillt, vielleicht schädlicher ist“ (KSB 4, 77).
Ohne auf das komplizierte Verhältnis von Wagner und Nietzsche näher einzugehen, lässt sich zusammenfassend sagen, dass das Leben „ohne Musik“ für Nietzsche offenbar in zweifacher Hinsicht einen „Irrthum“ darstellt. Es ist einerseits Irrtum, wenn allein die objektivierende Tätigkeit des Auges als Maßstab einer artikulierten Welt gelten soll. Dies ist der Irrtum der heute auf einen mikrobiotischen Materialismus zustrebenden Wissenschaft, die zuletzt dazu übergeht, auch das Subjekt, genauer den Menschen, ihren progressiven Objektivierungsprozessen zu unterwerfen, das heißt einer atomaren Apriorität, die ihm, insofern sie seine innere, „erzitternde“ Lebendigkeit verleugnet, nur in einem veräußerten Sinne entspricht. Es ist andererseits Irrtum, sofern das unendliche, abgründig unendliche Strömen der Stimmungen, Gefühle und Affekte dazu im Grunde keinen Gegenpol darstellt, sondern der wissenschaftlichen Verflüssigung der artikulierten Welt in eine einförmige Bewegung nach vorn sogar auf merkwürdige Weise entspricht. [5] Beiden Irrtümern ist zu eigen, dass sie die tiefere Berührung durch den Widerstand, der zu einem Anfang wie zu einem Ende gleichermaßen zwingt, für das Leben ausschalten möchten. Das Streben nach unendlicher Fortsetzung seiner selbst, ob als Alleinherrschaft des Auges oder als Alleinherrschaft des Gefühls, ist jedoch, darin ist sich Nietzsche mit Kant einig, zur Indifferenz verurteilt.