Die Rhythmologie: ein Programm

Article publié le 9. Oktober 2022
Pour citer cet article : , « Die Rhythmologie: ein Programm  », Rhuthmos, 9. Oktober 2022 [en ligne]. https://www.rhuthmos.eu/spip.php?article2915
Wenn die Uhren der Mitternacht

Eine grossmütige Zeit verschenken

Werde ich weiter gehen

Als die Vorruderer des Odysseus

(J.L. Borges)

Ist nicht jedes Drama und jede Komödie, jedes Schicksal, überhaupt das ganze Leben, eine Art Zusammentreffen gleichzeitiger und verschobener Rhythmen unterschiedlicher Akteure? Ist nicht der Zeitpunkt, wann etwas passiert, eingebettet in die jeweiligen rhythmischen Verläufe wimmelnder Individuen, Zellen und Welten, ebenso bedeutend oder vielleicht sogar bedeutender als, bzw. wie, dasjenige, was passiert?

 Am Anfang war das Wort

Rhythmus ist überall, aber dennoch wissen wir in der Regel wenig von seinen Eigenschaften. Das Wort selbst besitzt keinen wirklichen Zauber - wie etwa Zeit, oder Raum eine Aura besitzen - eher entstehen beim Klang des Wortes Stereotypen, wie Bilder des Schunkelns, oder des geschmeidigen Afrikaners, oder der Dampfmaschine, wissenschaftliche Zahlenreihen oder allenfalls Rhythm n blues. Gelegentlich steht auch eine fast mystische Erfahrung von Gesamtheit in Verbindung mit dem Rhythmus. Im Wort selbst schwingen unterschiedlichste Konnotationen zersplitterter Kulturteilchen mit, die von den Versmassen der Antike über die verlorene Ursprünglichkeit bis hin zu modernen Wissenschaftszweigen wie der Chronobiologie reichen; zu vielschichtig und paradoxerweise zu einsilbig wiederholt schimmert das Wort zwischen Sagen der Weltentstehung, nüchtern verstiegenen Wissenschaften, Künsten am Rande der Spiritualität und alltäglichen Zuschreibungen.

 Theorie / Erfahrung

Wenn gebildete Akademiker wie Oliver Sacks von Musik als einer Körpererfahrung berichten, oder Schriftsteller wie Haruki Murakami über das Lauf-Erlebnis philosophieren, auch wenn Michel Houellebecq das Zielen mit dem Gewehr beschreibt, wird der Rhythmus beschworen. Das sagt meist viel und beinhaltet noch mehr, aber eben als Ausdruck einer komplexen Erfahrung. Komponisten sind da weitergegangen, sie haben Rhythmus nicht nur reflektiert, sondern auch mit ihm experimentiert: John Cage, der sich in seinem frühen Werk sehr intensiv mit Rhythmus auseinandersetzte, ging davon aus, dass wir in einem universellen Rhythmus geborgen sind und den wir nur hören, wahrnehmen, notieren müssten, aber nicht stören sollten. Olivier Messiaen schärfte die Wahrnehmung für die unterschiedlichsten Zeitebenen der Natur, die er rhythmisch in Beziehung setzte: Insekten, Vögel, Menschen, das Universum …


Als griechisch lateinisches Lehnwort verfügt Rhythmus über eine aparte Orthographie, das ‚h‘ hinter den harten Konsonanten, eingebettet das exotische y …


Wozu ihm eine besondere, zusätzliche Beachtung und Betrachtung verleihen?


Weil das Phänomen, oder eher die Phänomene, die der Rhythmus bezeichnet, ebenso faszinierend wie grundlegend sind. Rhythmus ist mehr als nur eine Denkfigur, er impliziert Erfahrungen. Das macht es so schwierig, sich über ihn zu verständigen. Rhythmustheorien sind daher nur Annäherungen, die zudem so widersprüchlich und verstrickt sind wie das Dickicht eines Dante’schen Waldes. Sie sagen verkürzend in ihrer langatmigen Genauigkeit meist weniger aus, als verdichtende literarische Umschreibungen.


Rhythmen umgeben uns - Tag und Nacht, Stunden und Minuten, Monate und Jahre. Ebenso machen die Bio-Rhythmen uns aus, sie arbeiten als innere Uhren in uns: Atmung, Herzschlag, das Gehen, Wachen und Schlafen. Die Geschichte des Universums, der Erde, der Menschheit durchlaufen Rhythmen und Zyklen wie die Börse, die Fortpflanzung und der Verkehr. Alles Phänomene, die das Sein bestimmen und einem ‚inneren Rhythmus‘ folgen, der so komplex ist, dass er die Möglichkeiten der Erkenntnis zu überschreiten scheint. Jedes Individuum atmet anders, schläft anders, jedes Herz schlägt in seinem eigenen Rhythmus. Es gibt einen Eigenrhythmus, der uns als Individuum in der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit ausmacht. Und es gibt einen Gesellschaftsrhythmus, der als normierte Taktung das Individuum massgeblich von aussen bestimmt. Wenn wir den Rhythmus zum Gegenstand der Betrachtung machen, steigen wir in unterste, in der Regel verborgene Seinsschichten hinab, sei es der lebendige Organismus, die kosmische Struktur, tägliche Arbeit oder das gesellschaftliche Gefüge. Alles funktioniert durch Rhythmus. Und gerade deshalb muss er ‚nur‘ funktionieren, sonst gerät das Seinsgefüge ins Wanken, oder besser: entsteht aus Gewissheit eine Frage. Die Frage nach dem Rhythmus ist eine Frage nach der Existenz selbst.


Es besteht ein Konflikt- und Kreativpotential im Rhythmus. Das aber erkennen wir erst, wenn Rhythmus erfahren wird. Und das findet bereits sehr früh statt, nämlich im Mutterleib. Embryos nehmen bereits schon die Stimmen der Aussenwelt wahr, sie hören Schrittfolgen. Untersuchungen in der Kardiophysiologie fanden komplexe Strukturen in der Beziehung von Herzschlägen zwischen Fötus und Mutter heraus, wo es um das Wechselspiel von Autonomie und Synchronisation ging. Das erschöpft sich nicht in einem einfachen ‚doppelt-so-schnell‘ des fetalen Herzrhythmus. Komplexe rhythmische Bildungen in teils nonlinearen oder konfligierenden Konstellationen (im Verhältnis 4:3 z.B.) erzeugen die symbiotische Beziehung der Organismen.


Den Herzrhythmus hören wir nicht nur, wir spüren ihn. Und hier beginnt die rhythmische Erfahrung, die multimodal ist und mehrere Sinne umschliesst. Nicht nur das. Die Rhythmuserfahrung, ins Vorgeburtliche datierend, ist nicht einfach eine lineare Abfolge von Impulsen; vielmehr ist es das gleichzeitige Zusammenwirken verschiedener Ebenen, die in sich einen Eigenrhythmus, eine innere Uhr tragen. Dementsprechend sind es polyrhythmische Gebilde, mit denen wir hörend und erlebend vom Beginn unseres Lebens konfrontiert sind. Rhythmuserfahrung umfasst strukturell kognitive und körperliche Erfahrung. Sie reicht in tiefste Seinsschichten hinab.


Mehr und mehr wurde in der neueren Zeit durch Differenzierung wissenschaftlicher Betrachtung und durch die zunehmende Komplexität der Gegenstände die Gleichzeitigkeit verschiedener Rhythmen wie in einer vielstimmig verstrickten Polyphonie erkannt. Ein übergeordneter Rhythmus, der die unterschiedlichen Ebenen zusammenbinden könnte, ging allmählich verloren. So erscheint eine gängige Rhythmuslehre lediglich sinnvoll anwendbar auf sehr elementaren Ebenen, die sich im Prozess differenzierender Betrachtung in andere Begrifflichkeit wie Form, Prozess etc. auflöst. Damit einher geht meist eine Entzeitlichung der Phänomene.


Doch da setzt genau das geschichtliche und theoretische Problem von Rhythmus und seine zentrale Bedeutung an.

 Raum - Zeit

Rhythmus bezeichnet einen zeitlichen Vorgang mit zyklischem Charakter. Meist handelt es sich bei den Begriffen von Rhythmus und Zyklus um den Unterschied zeitlicher Grössenordnung. So sprechen wir vom Biorhythmus, aber vom Menstruations- und vom Jahreszyklus. Beides könnte auch umgekehrt benannt werden, ist also austauschbar. Aber während Rhythmus für die kleineren Grössenordnungen wie etwa Versmasse verwendet wird, beschreibt der Zyklus Perioden langer Dauer.


Das wäre eine erste Definition von Rhythmus, seine Zeitlichkeit in kürzeren Abschnitten. Aber stimmt sie auch? Was ist gemeint, wenn Menschen vom Rhythmus eines Bildes, eines Fotos, womöglich einer Architektur sprechen? Handelt es sich bei diesen visuellen Medien um einen zeitlichen Vorgang, oder ist vielmehr eine gestalterische Komponente gemeint, die das Gezeigte in regelmässige Teile, in eine besondere Linie, eine besonders geschwungene z.B. unterteilt? Rhythmus besitzt diesen obskuren Charakter, für zeitliche und räumliche Phänomene in Anspruch genommen zu werden; was nicht wirklich vollkommen überraschend ist, da das abendländische Denken (vielleicht nicht nur das) häufiger einen Austausch räumlicher und zeitlicher Begriffe vornimmt, etwa wenn ich mit „ungefähr drei Minuten“ antworte auf die Frage, wie weit der Bahnhof entfernt ist. Diese Verbindung von Rhythmus in Raum und Zeit ist bereits in der Antike (bei Aristides Quintilianus z.B.) angelegt und hat sich seitdem bis in die Gegenwart fortgeschrieben. Rhythmus bezeichnet ganz allgemein eine Gliederung, was auch einer Übersetzung von Rhythmus entspricht, sei die Gliederung zeitlich oder auch räumlich.


Wenn Rhythmus betrachtet, erfahren, analysiert wird, begibt man sich auf eine Reise in die Zwischenräume von Raum und Zeit, in die Unterschiedlichkeit und Überschneidung, vielleicht sogar in die Verwirrungen der Maßstäbe und Grössenordnungen und ihre Übergänge. Als Hans Richter seinen frühen Film Rhythmus 21 veröffentlichte, waren es nicht nur Aspekte des Zeitlichen, die den Rhythmus ausmachten. Auch Kontrastbildungen des Schwarzweiss, Bewegungen der Gegenläufigkeit waren als optische Träger der rhythmischen Organisation unterworfen. Rhythmus ist ein Spiel mit der Wahrnehmung, die stets einem zeitlichen Prozess folgt, wie ebenso mit Normen und Denkvorstellungen (und deren Durchbrechung), die bis in die Sprache hineingewachsen sind. Eine etwas kryptische Passage aus Deleuze / Guattaris 1000 Plateaus umschreibt daher letztlich sehr treffend die Wahrnehmung von Rhythmus.

… der Rhythmus (ist) das Ungleiche, Inkommensurable, das ständig transponiert wird. Das Mass ist dogmatisch, aber der Rhythmus ist kritisch, er verknüpft kritische Momente. Er wirkt nicht in einem homogenen Zeitraum, sondern operiert mit heterogenen Blöcken. Er ändert die Richtung. …(1000 Plateaus, 427)

Was diese Betrachtung deutlich macht ist eine grundlegende Perspektive der Kritik, wie sie die Musik für die letzten Jahrhunderte herausgearbeitet hat. Das Spannungsverhältnis zwischen Rhythmus und Metrum. Während der Rhythmus das ganz individuelle Gebilde von Musik bezeichnet, die verschiedenen Längen und Kürzen von Tönen, so setzt das Metrum (das Mass) dagegen einen festen Rahmen, indem sich die Individualität entfalten kann. Gewissermassen könnte man sagen, dass das Metrum den gesellschaftlichen Rahmen markiert, der Rhythmus das Individuum. Doch das ist zu einfach gedacht. Denn Rhythmus nistet sich ein in die Prozesse unterschiedlichster Ebenen, in der Musik: Klangfarbe (Instrumente), Dynamik, Tonhöhen … Daher trifft die oben erwähnte Betrachtung, mag sie auch zunächst kryptisch sein, zu, da sie den Rhythmus als Übergang und als kritischen Augenblick markiert, als Ausbruch aus dem Reglemtierten, der in unendlich vielen Aspekten auftreten kann. Das rettet den Rhythmus als Lebendiges, als ständiges Werden gegenüber einem Mass, das stets zu erstarren droht. So können wir, im Fall des Auffindens geeigneter analytischer Werkzeuge und passender Analogien, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auf rhythmisch metrischer Ebene beschreiben. Allerdings in sehr viel differenzierterer Form, als es der klassische Rhythmusbegriff der Musik nahelegen würde.


Mit der Deleuze’schen Definition ist nur die eine Ebene des Rhythmus benannt, die indivdualisierende, hingegen der musikalische und auch der von Hegel verstandene Begriff Regel und Durchbrechung im gegenseitigen Verhältnis erfasst. Vergleichbar etwa mit dem juristischen Recht und der vorliegenden Tat, die im Widerspruch dazu steht (die Beispiele können zahllos vermehrt werden, die Struktur ist stets die gleiche). Die Tat wäre ohne Gesetz schlicht nicht zu bewerten. Das wiederum wäre das Ende jeglicher theoretischen Betrachtung. Man befände sich auf Neuland. Diesen waghalsigen Versuch hat die Neue Musik seit Schönberg verfolgt: mit dem Problem, dass sie sich der Waghalsigkeit kaum bewusst zu sein scheint, mit Ausnahme von Anton Webern.

 Zeitgestaltung: Diagnose der Gegenwart

Offener Gesellschaft mangelt es an Verbindlichkeit. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Normen und Rituale wie der sonntägliche Gang zur Kirche betreffen Einzelne, deren Bindung entweder besonders stark, oder aber frei gewählt ist. Generell kann sich Jede/r die Freizeitgestaltung selbst aussuchen. Folge davon ist nicht nur eine Freiheit, ebenso entsteht eine Gestresstheit oder auch eine Verlorenheit der Individuen, die sich einer Selbstverantwortung gegenübersehen, die sie in Anbetracht eines herausfordernden Arbeitsalltags nur schwer leisten können. Und der Arbeitsalltag wiederum ist auch nicht mehr ein ‚9 to 5‘ Zeitabschnitt, sondern sehr viel stärker individualisiert als früher. Auf der Ebene des Rhythmus ausgedrückt entspricht dies dem Verlust des Metrums, das den allgemein verbindlichen, gesellschaftlich normierten Rahmen erzeugt, zugunsten einer Alleinherrschaft individueller Rhythmen, denen der Bezugsrahmen fehlt. Um dieser herausfordernden Offenheit begegnen zu können, wenden sich immer mehr Menschen Weltbildern der Verbindlichkeit, der Anbindung, der Religion oder des Körperkults (Fitness) zu, um das Leben bestehen zu können. Sie schaffen sich ihr eigenes Metrum. Zeit spielt dabei eine entscheidende Rolle, denn sie ist es, die es zu gestalten gilt, zu planen, zu gliedern, wie etwa Altersvorsorge, Karriere, Beziehungs- und Familienplanung etc.


Wenn wir von gegliederter oder gestalteter Zeit sprechen, meinen wir Rhythmus. Rhythmen ergeben sich einerseits aus natürlichen Gegebenheiten wie Tag und Nacht, Jahreszeiten etc., aber auch aus gesellschaftlich vereinbarten Verläufen, wie Arbeit, Freizeit, Ferienzeit, Wachen-Schlafen etc.. Zwischen der allgemein gesetzartigen Rhythmusgestaltung bleibt Spielraum für die eigene Gestaltung, die Eigenzeit. Am Rhythmus entzündet sich die Verbindung von allgemein Verbindlichem und individuell Gestaltbarem, die Begegnung von Individuum und Gesellschaft. Und dies als tatsächliche Lebensgestaltung. Safranski schreibt in seinem Zeitbuch, dass die Zeit eine politische Grösse ist, die es zu berücksichtigen gilt, was Politiker bis heute nicht verstanden hätten. Dies ist eine sehr berechtigte Beobachtung. Safranski wiederum geht aber nicht auf die Zeitgestaltung ein, die besonders politisch ist: Die Gestaltung von Rhythmen. Begriffe wie Rand-, Stoss- und Öffnungszeiten sedimentieren sprachlich die gesellschaftliche Verordnung eines Rhythmus im Grossen.


Entscheidend in dieser Geschichte der rhythmischen Lebensgestaltung ist der Begriff der Eigenzeit, ausgehend vom ‚tempus suum‘ des römischen Denkers Seneca, der von Helga Nowotny in den 80er Jahren prominent gemacht wurde. Die Eigenzeit ist jene Zeit, in der sich das Individuum (vermeintlich ungehindert) entfalten darf. Im 20. Jh. der Nachkriegszeiten war dies im Zuge der Kapitalismuskritik bewusst und kenntlich gemacht im Begriff der Entfremdung. Durch den Turbokapitalismus im 21. Jh. wird diese Perspektive erstaunlicherweise problematisch. Selbst aus den Lagern, die sich selbst als links bezeichnen, gilt die Diskussion zur Entfremdung als überholt. Menschen stehen als Human Ressource für den Arbeitgeber oft nonstop zur Verfügung, die klaren Trennungen und Einforderungen von Frei- und Arbeitszeit diffundieren, die Rhythmen werden allzu kompliziert oder sind gestört und unübersichtlich. Kaum eine Netflix-Serie, die ohne diesen Rhythmus-Konflikt zwischen Familie und Arbeit auskäme. Entfremdung wird als Kritikpunkt politisch entwertet, Arbeit allgegenwärtig als Selbstverwirklichung proklamiert. Die viel beschworene Work-Life-Balance verkommt zur spiessigen Worthülse.Eine Selbstverwirklichung, die sich im Zuge der Beschleunigungslogik den wirtschaftlichen Prämissen unterwirft und die Eigenzeitlichkeit aufgibt. H. Rosa hat im Modell der Resonanz eine Kritik an dieser Logik formuliert und eine Entschleunigung bei höherer Bewusstheit der Prozesse untersucht und eingefordert. Solche grossräumigen Entwürfe sind gut gemeint, treffen aber nur selten dasjenige, wovon sie eigentlich sprechen. Resonanz als kommunikative und lebensweltliche Ressource produktiv zu machen, findet nicht in idealistisch verordneten Weltbildern statt, sondern ereignet sich im kleinen, in der Begegnung von Individuen und Gruppen. Etwa im Gespräch. Als Fernsehzuschauer von Talkshows ist man Zeuge von Situationen, wo sich die Gesprächspartner permanent ins Wort fallen, die Redezeit ungerecht verteilt wird. Meist wird dem Fehlverhalten vom Moderator auch noch stattgegeben. Was wäre also das Gegenteil von Resonanz? Womöglich Konkurrenz. Vielleicht wäre ein sinnvoller Ausgangspunkt, um das Problem zu erkennen und zuzuspitzen, von einem Zeitkrieg auszugehen, wie es das Musikfestival Maerzmusik 2018 vorgeschlagen hatte. Der Kampf um Sendezeiten und Einschaltquoten, ein immens rhythmisches Phänomen, wäre ein wohl passendes Thema.

 Arbeit am Rhythmus

Seit 6 Jahren unterrichte ich ein Theoriemodul zum Thema Rhythmus. Ziel dieser Veranstaltung ist, die ebenso grosse Perspektive von Natur und Gesellschaft auf rhythmische Perspektiven, also den Zyklus-Charakter zu befragen, wie Prozesse von Rhythmen in der künstlerischen Arbeit – sowohl zeitlich/räumlich strukturierend wie auch ästhetisch – zu reflektieren. Wenn wir gestalterisch tätig sind, arbeiten wir automatisch immer rhythmisch, aber wir produzieren auch Rhythmen in unseren Werken. Gibt es da einen Austausch? Welchen Rhythmusbegriff legen wir - in der Regel implizit - unserem Tun zugrunde, welche Rhythmen reproduzieren wir teils unbewusst und lenken damit die Erfahrung und Wahrnehmung Anderer? Kann ein bewusster Umgang mit Rhythmus im Alltag und der Arbeit, auch in der freien Zeit, helfen, das Pensum besser zu bewältigen, die Zeit besser zu gestalten?


Mit der Beschäftigung von Rhythmus gelangen wir auf die Ebene, bevor Dinge anfangen, etwas zu bedeuten. Wir gelangen an den zeitlichen Charakter der Dinge, an ein zeitliches Da-sein, das aber immer auch schon Bedeutung in sich trägt. Ein Zeit-Ort gewissermassen, der in der Geografie der Wahrnehmung eine Bedeutung besitzt, derer wir schon nicht mehr gewahr werden, weil sie zu den verschwiegenen Selbstverständlichkeiten gehört, die nicht mehr ins Bewusstsein gelangen. Gerade dies aber macht den Rhythmus interessant, denn aus ihm leitet sich Bedeutung ab, ist präfiguriert in einem Schema, das das Denken massgeblich bestimmt: bedeutend-unbedeutend, oben-unten, schwer-leicht, lang-kurz, langweilig-interessant. Alles Oppositionen, die eingespannt sind in das rhythmische Schema von Hebung und Senkung, von Arsis und Thesis, von Zeichen und Zwischenraum. Das erinnert an die Definition der Chora, wie sie Julia Kristeva vorgenommen hatte und tatsächlich verweist auch sie auf den Wert von Rhythmus und Klang, der sich im Vor-Ort der Bedeutung als Matrix für spätere Bedeutungen (Signifikation) manifestiert.


Aber natürlich auch umgekehrt, das Denken bestimmt den Rhythmus, der als Phänomen in die Denkoperationen eingespeist wird und seine Normativitäten gewinnt. Gerade in der Konfrontation von Phänomen und Theorie entzündet sich die Erfahrung eines Denkexperiments, das Grundlagen der Gesellschaft in den Fokus stellt.

 Wahrnehmung

Rhythmus ist überall, dies ist eine schlichte Tatsache. Aber die Wahrnehmung ist in der Regel nicht auf ihn fokussiert. Was passiert, wenn ich beginne, bewusst den Rhythmus wahrzunehmen? Zunächst sucht meine Wahrnehmung überhaupt nach Rhythmen, was dazu führt, dass ich den umgebenden Raum hörend und sehend abtaste und ihn mit meiner Tätigkeit ins Verhältnis setze. Plötzlich werden mir die Geräusche der vorbeifahrenden Autos bewusst, die in ihrer Verlaufskurve eines crescendo-decrescendo ein legato erzeugen. Ich werde mir bewusst, dass ich zwei Schlucke aus der Teetasse getrunken habe, dass mein Atem ruhig läuft und meine Finger über die Tastatur huschen, von einzelnen Pausen durchbrochen. Das hat alles nichts miteinander zu tun und gleichzeitig doch sehr viel. Es ist meine Lebenswelt, ein unwiederbringlicher Moment, der sich einbettet in gewohnheitsmässige Umgebungen, die mir dabei helfen, meinen persönlichen Schreibrhythmus zu finden. In diesem Sinne ist Rhythmus eine Form der Präsenzübung, eine Distanzierung einerseits, damit verbunden eine Herstellung von Beziehungen und Relationen andererseits. Es ist das, was Deleuze in seiner Filmtheorie als Bewegungsbegriff zugrunde gelegt hatte.


Was den Rhythmus aber noch interessanter macht, ist die aktive Wahrnehmung, die gleichzeitig nicht eingreifen darf. In Hegels Phänomenologie findet sich eine interessante Passage, die den Rhythmus gleich in zweifacher Weise benennt.


Was nun erstaunlich ist, dass der Komponist John Cage gar nicht weit von diese Auffassung entfernt ist. Den kosmischen Rhythmus nicht zu stören beim Schreiben von Noten, entspricht ziemlich genau der nicht einschreitenden Wahrnehmung von Gedankengängen bei Hegel. Schliesslich finden sich Roland Barthes Überlegungen zum gleichschwebenden Zuhören des Psychologen (Freud), der die erst durch das Nichtstören der Erzählung des Patienten die Brüche bemerkt: Rhythmenwechsel. Aber das ist meine Interpretation.

 Geschichte

Der Rhythmus in der westlichen Gesellschaft wurde in seiner umfassenden Bedeutung (wieder) entdeckt zu Beginn des 20. Jh., als Mensch und Machine sich ein Stelldichein lieferten, das die Menschheit für immer verändern sollte. Heute sind wir an dem Punkt, an dem die Maschine die Führungsrolle übernommen hat. Wir folgen den Algorithmen. Unsere Rhythmen sind davon betroffen, aber nicht grundlegend verändert.


Rhythmus bezeichnet den Wandel schlechthin. Nicht nur in der Offenheit gegenüber dem Zeitlichen, sondern auch in der Stabilität von Zeit. Die Verschränkung von Wiederholung und Veränderung. Eine Verschränkung, die es uns ermöglicht, die Welt zu erkennen, wie ebenso die Grenzen dieser Erkenntnis. Je nach dem, welche Komponente von Rhythmus man betont und einseitig in den Vordergrund rückt, Wiederholung oder Veränderung, dem entsprechend ist das Weltbild geprägt von Stagnation und Unflexibilität in metrisch orientierten Theorien, oder von Draufgängertum und Unwissenheit auf Seiten der freien Rhythmik. Das mag pointiert verkürzend klingen, aber genau um die Aufdeckung dieser Einseitigkeiten ginge es. Erst in dem Zusammenspiel von Wiederholung und Veränderung ist das Erkennen von Wandel und die Gestaltung von Offenheit möglich, in Form einer prozessualen Balance.


Prozessuale Balance dient als Versuch undogmatischer Beschreibung zeitlicher Prozesse von Ebenen, die einen Zusammenhang besitzen. Wie etwa reagiert der Körper bei dem Entrainment von Umweltveränderungen? Der Jetlag ist dafür ein prominentes Beispiel.


Das 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet von der Entdeckung von Zeitlichkeit. Heideggers Sein und Zeit, Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Bergsons Unterscheidung von Temps espace und Temps durée führten zu Untersuchungen und Perspektivwechsel, die ebenso die Wahrnehmung selbst wie die Gestaltung des Lebens und der Lebensumstände veränderten. Technische Erfindungen haben in den Haushalt der Zeit eingegriffen, die Waschmaschine, das Auto, der Computer. Die westliche Welt befindet sich in einer rasanten Beschleunigung, die nicht nur positiv bewertet wurde. Überlegungen von Entschleunigung und Langsamkeit wurden prominent ins Feld geführt. Die Erkenntnis von Beschleunigung selbst basiert auf der Erkenntnis von Rhythmus. Wir könnten die Beschleunigung nicht wahrnehmen, wenn es nicht zuvor eine mess- oder erkennbare Langsamkeit, relativ zur Beschleunigung gegeben hätte. Anstatt aber dieses Wissen dem Rhythmus zuzuschreiben, bedient sich die Wissenschaft Begrifflichkeiten, die stets das zeitliche Moment aus dem Blick verlieren, ent-zeitlichen. Ein ein in letzter Zeit dramatisches Beispiel dieser Entzeitlichung ist die so genannte Neue Phänomenologie, die nach Schmitz vor allem durch G. Böhme prominent gemacht wurde. Sein Konzept der Atmosphären, das zu zahlreichen Untersuchungen in der Ästhetik führte, beschreibt Böhme zunächst nachvollziehbar als die Leiberfahrung von Raum. Aber die damit verbundene Entzeitlichung des Begriffs von Raum und Wahrnehmung muss gerade in der Nachfolge der Phänomenologie schockieren, nachdem Husserl und Merleau-Ponty die zeitlichen Grundlagen der Wahrnehmung herausgearbeitet hatten. Der Atmosphärenbegriff wäre daher zu verzeitlichen als Wahrnehmung eines zugrundeliegenden Pulses, einer Qualität von Ruhe oder Unruhe, entstehend durch Langsamkeit oder oder Geschwindigkeit. Murray Schafer, der grosse Theoretiker des Sound designs, hatte die Erfahrungen von Soundscapes entwickelt. Auch hier finden sich nur unzureichend zeitliche Ebenen für das, was hinterher massiv bewertet wird. Die positive Naturlandschaft und die negative Industriewelt. Aber stellen wir uns eine Landschaft vor, in der der Wind tobt und so viele Vögel zwitschern wie in Hitchcocks Birds; stellen wir uns umgekehrt eine Industrielandschaft vor, in der eine Lokomotive aus der Stille heraus einsam ihren Pfiff ertönen lässt (antiquiertes Beispiel, stimmt). Plötzlich würde sich das positive und negative verkehren. Entscheidend wäre die zeitliche Dimension von Ruhe, die ein einzelnes Ereignis aus der Stille heraustreten lässt. Zudem auch, da hier eine aisthetische Annahme vorliegt, die zeitliche Gestimmtheit des wahrnehmenden Subjekts, worin sich Erwartungen abspielen, die einen zeitlichen Horizont abstecken. Solch ungenaue Argumentationen führen stets zu Missverständnissen, die sich am Ende fatal für die Analyse und damit verbunden die Konzeptualisieren von Phänomenen auswirken können.


Für eine genauere zeitliche Perspektive aber bedarf es einer Revision des Rhythmusbegriffs selbst, der als Begriff nicht nur Metrum und Dauernvariationen umfassen sollte, sondern auch das Tempo, die Geschwindigkeit. Wenn wir eine Be- oder Entschleunigung erfahren, handelt es sich um eine Steigerung oder Abnahme von Geschwindigkeit, in der Musik beschrieben als ritardando oder accelerando. Diese Tempoveränderungen aber sind als zeitlicher, durchaus messbarer Vorgang an den Rhythmus gebunden. Es wäre an der Zeit, eine Forschungsrichtung zu etablieren, die diesen Zeithorizont nicht aus den Augen verliert.


Ich nenne diese Forschungsrichtung kulturelle Rhythmologie.

 Konzeptualisierungen von Zeit und Rhythmus

Zeit wird in der Kultur der Uhr konzeptualisiert als ein stetig fortschreitendes Phänomen (gleichmässiges Tempo), das sich nie wiederholt. Jeder Moment ist einzigartig und neu. Das aber entspricht nicht der Lebenswirklichkeit, in der ein Zusammenwirken von Fortschritt und Wiederholung essentiell ist. Tages- und Nachtrhythmen, Jahreszeiten, das Jahr und die Jahrhunderte etc. sind Konzeptualisierungen von Zeitlichkeit, die auf unterschiedlichen rhythmischen Vorstellungen beruhen: Auf dem Prinzip, dass Fortschritt und Wiederholung dergestalt ineinander greifen, dass es zu wahrnehmbaren Veränderungen und Verwandlungen eines Immergleichen kommt: Es ist Samstag Abend, 23h am 24.4. Wie oft hat es diesen Tag schon gegeben? Aber den 24.4.2021 gibt es nur ein einziges Mal. Wir wissen nicht, wie genau die Temperaturen und überhaupt das Wetter sein werden. Wir wissen, dass der Frühling kommt. Diese mit der Unendlichkeit verschränkte Einmaligkeit war es wohl, die James Joyce dazu veranlasste, seinen gigantischen Roman Ulysses nur an einem Tag spielen zu lassen, in dem sich das ganze Universum spiegelt.


Zeitlichkeit ist immer schon da. Sie trägt unser Dasein, ohne dass es uns bewusst werden müsste. Zuinnerst sind wir reine Zeit , nannte sich ein Artikel zum Philosophen Henri Bergson. Atmung, Herzschlag, das Gehen, Schlafen und Wachen, sind einem rhythmischen Wechsel von Polarität unterworfen, in der es zu endlosen Abstufungen und Überschneidungen kommt. Im Wachtraum, in der Dämmerung. Das macht den Rhythmus und mit ihm die Zeitlichkeit schwer fassbar. Denn einerseits besteht die klare Ausprägung einer Polarität, im Gegensatz und im Kontrast, auf der anderen Seite liegt gerade das zeitliche Moment im Übergang, in der Bewegung von einem Moment in den nächsten, oder von einem Extrem ins Andere.


Rhythmus ist sowohl diese Polarität, wie er ebenso das Dazwischen umschreibt, die Abstufung, den Übergang. Gerade in den Übergängen wird eine zeitliche Qualität eines langsam und schnell, abrupt oder fliessend, wahrgenommen, die den Rhythmus wesentlich bestimmen. Diese qualitative zeitliche Ebene wurde von der Rhythmusforschung bislang kaum in Betracht gezogen. Aber genau hier setzt die zeitliche Qualität des Rhythmus an, der sich nicht in der Übersetzung von gleichmässigen Zahlenreihen erschöpft …


Die Ziffern 1-10 scheinen neutral den Anstieg von Wertigkeit und Masse anzuzeigen. Die Ziffern in ihrer Umkehrung werden dramatisch, im Countdown. Die vergehende Zeit bedeutet immer auch ein Wenigerwerden von etwas: Leben, unangenehme Situationen … Einzelne Zeitmomente sind geladen mit Spannung, bilden eine Kette fortlaufender Serien. Wann beginnt Rhythmus, wann hört etwas auf, rhythmisch zu sein? Was nehmen wir wahr als rhythmisch, und wie ist die Wahrnehmung selbst verstrickt in Rhythmen der Wahrnehmung?


Blicken wir in die Geschichte zurück, so liegt der Beginn der Konzeptualisierung von Rhythmus in den Künsten - dort, wo Regeln von Schönheit aufgestellt wurden, um den zeitlichen Fluss auf angenehme Weise zu gliedern. In der Sprache war das Zeitmass langer und kurzer, resp. schwerer und leichter Silben das entscheidende Kriterium für rhythmische Abfolgen. In einer nächst grösseren Zeitebene die Versmasse, die die Sätze in rhythmischem Regelmass verbanden (Knittelvers etc.), der klassischen Metrik. Aristoxenos und Aristides Quintilianus eröffneten die Gesamtperspektive des Rhythmus auf alle Künste, die nicht nur zeitliche Abfolgen umfassen, sondern auch Proportionen. War es Goethe, der von Musik als fliessender Architektur sprach und von der Architektur als gefrorener Musik? Wenn wir mit dem Fahrrad die Einkerbungen der Fahrbahn durchlaufen, spüren wir genau diese rhythmischen Einkerbungen. Raum ist potentiell erfahrbare Zeit, Zeit ist ein möglicher Erinnerungs- und Erfahrungsraum. In der Erfahrung von Rhythmus verkehrt sich der Zeitraum zur Raumzeit. Bergson, Deleuze/Guattari …

 Rhythmus in der Musik

Mit der Herausbildung musikalischer Notation bildete sich nach und nach eine sehr komplexe rhythmische Gestaltung heraus, die es ermöglichte, unterschiedliche Stimmverläufe in ihrer melodischen Eigenständigkeit dergestalt zu vereinen, dass es zu einem mächtigen Klangstrom in der niederländischen Polyphonie um 1450 kommen konnte. Unter dem Gesetz der identischen Zeitlichkeit (Tactus) konnten unterschiedliche Geschwindigkeiten miteinander verbunden werden. Mit der Einführung flexibler Tempi um 1600, also der Aufgabe des identischen Zeitmasses, gewann die Verbindung von Geschwindigkeiten eine expressive Bedeutung, die einen Wechsel der Kunstform Musik vom Quadrivium, den mathematischen Wissenschaften der Antike, zum Trivium der poetisch sprachlichen Wissenschaften markierte. Das Sprachgefühl, der Redefluss von Beschleunigung und Verlangsamung, wie er in Italien u.a. durch Vincenzo Galilei diskutiert wurde, wurde strukturbildend und fand seinen Niederschlag in den Notes inegales auch der französischen Musik. Eine Vereinfachung und Vereinheitlichung des musikalischen Rhythmus, wie sie von Rene Descartes 1647 im compendium musicae vorgedacht wurde, fand seinen Niederschlag in den nachfolgenden Jahrhunderten, in den Kompositionen der Klassik und Romantik. Die achttaktige Periode, wohl aus der Dichtung früherer Jahrhunderte und aus Volksliedern stammend und in der Form des 32, bzw, 64 Taktiken Menuetts kulminierend, ermöglichte ein neues musikalisches Formdenken, das den dialektischen Lebensprozess von Wiederholung und Veränderung exemplarisch abbildete. Ein Rhythmus im Grossen konnte nun komponiert werden, der den Musikhörenden einen Zugang zu ihrem eigenen Leben, zu ihren Willen und Trieben, wie es Artur Schopenhauer in seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ benannte.


Mit der Romantik und der neuen Musik wurden zeitliche Verläufe derart differenziert gestaltet, dass rhythmische Phänomene sich massiv beschleunigten und eine Wahrnehmung des Rhythmus im traditionellen Sinn schwer machten. Die entstehenden Werke tendierten mehr und mehr zu rhythmischer Individualität, zu einem Eigenrhythmus. Insofern reflektierten die Komponisten die Tendenz zur Individualisierung, die sich in der rhythmischen Grossgestaltung, der Form, niederschlug. Der Siegeszug der Popmusik zeigt einen ganz gegenläufigen, aber ebenso gesellschaftlich reflektierenden Prozess an, den der Vereinheitlichung. Die Seinsbedingungen zwingen sich mehr und mehr in Normen wie die achttaktige Periode, in der sich das Individuum nur noch als Couleur locale zeigt. Hier feiert der Rhythmus derzeit seine bedeutenden Feste, die von Autoren wie Oliver Sacks wissenschaftlich untermauert werden. Rhythmus steht für Eiinheit, nicht für Differenzierung. Die Differenzierung ist nicht mehr dem Rhythmus zugeschrieben.

 Methoden des Messens - Prozessuale Balance

Aber gerade dies muss als Rhythmusphänomen ernst genommen werden. Denn wir befinden uns inmitten der Problematik von Beschleunigung und Wahrnehmung, einer zentralen Problematik, die nicht nur die künstlerische Produktion und Rezeption betrifft, sondern weit mehr die gesellschaftliche Situation im Kreuzfeuer technischer Errungenschaften und ihrer Wahrnehmung und Anwendung im Alltag. Die Revolutionen von Beschleunigung, die von den künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jhs. ebenso produktiv gemacht wurden wie in der o.g. Philosophie um die Phänomenologie, mündeten in einer gesellschaftlichen Krise kriegsgefährdeter Dynamik, die mit dem Wettrüsten ein ‚schneller-höher-weiter‘ als einzige Regel gesellschaftlichen Fortschritts gelten liess. Mit dem von der Soziologie eingeführten Zauberwort der Entschleunigung und neuerdings mit Begriffen der Resonanz (Rosa) und sogar der Entnetzung sollen neue Prozesse etabliert werden, die zu einer anderen, differenzierteren Dynamik führen als dem vom Kapitalismus sanktionierten Beschleunigungsdenken. Das aber sind sämtlich zeitliche Prozesse, die aufs Engste mit einem rhythmischen Denken verbunden sind. Nur leider werden diese zeitlichen Prozesse nicht auf rhythmischer Ebene und als rhythmische Phänomene untersucht.


Schon Friedrich Schiller hatte mit seinem Gedicht der Tanz auf die ästhetische Eigenschaft des Masses hingewiesen, das in der Kunst zu einem harmonischen Ganzen zeiträumlicher Verläufe führen kann, in der Gesellschaft aber durch Nichtbeachtung in bedrohliche Situationen. Aber die entscheidende Frage heutzutage ist: was ist eigentlich das Mass, wie und was wird gemessen?


Tanz und Musik stehen unter diesem Aspekt als zeitlich basierte Künste, die - anders als Theater und Dichtung - nicht mit Bedeutungen, sonder.n mit primär zeitlich definierten Ausdruckselementen arbeiten, in einer ästhetischen Erziehung des Menschen, wie sie Schiller einst für eine Gesellschaft eingefordert hatte, ganz weit vorne im Bildungsprozess von Individuum und Gesellschaft. Und auch diese Vorstellung geht zurück auf antikes Denken (s. Artistides)


Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts Karl Bücher, Nationalökonom (Arbeit und Rhythmus) und Émile Jaques-Dalcroze, Musikpädagoge, den Rhythmus zu einer entschiedenen Grösse von Kunst und Leben erhoben, schien zunächst genau das wahr zu werden, was in der literarischen Klassik zuvor bei Schiller und auch bei Ch. G. Körner vorgedacht war, eine Verbindung von Kunst und Arbeit als Spiel im Leben. Politisch totalitäre Systeme und technische Errungenschaften wie der Faschismus und das Fliessband aber setzten einzig auf militärische Taklung und Gleichschaltung. Das Lebendige des zeitlich Rhythmischen wurde dem Mechanischen unterworfen.


In gewisser Weise endet hier die Erfolgsgeschichte des gesellschaftlichen Rhythmus’ als ein übergeordneter Entwurf. Aber dieser Rhythmus von Gleichschaltung war eben nur ein Entwurf unter vielen. Den Rhythmus aus dem gesellschaftlichen Denken zu verbannen hat sich ebenso negativ ausgewirkt wie seine einseitige Verabsolutierung. Was in der Kunst neuerer Zeit sich als produktiv ausweisen konnte, ist nicht die Gleichschaltung des Rhythmus, sondern seine Widersprüchlichkeit und Differenziertheit: Die Bewusstwerdung unterschiedlicher zeitlicher Ebenen und Prozesse in der Gleichzeitigkeit. Regisseure wie Einar Schleef, Komponisten wie Helmut Oehring, arbeiten mit Ebenen des Klangs, der Sprache und des Körpers, für die sie unterschiedliche Zeiten komponieren (s. Firscher-Lichte). Das Prozessuale steht im Vordergrund und dessen rhythmische Qualität zeigt sich nicht in einer verordneten Gleichschritt-Mentalität, sondern in einer prozessualen Balance. Unterschiedliche Ebenen entwerfen ihre eigene Zeitlichkeit und kreieren einen Vorgang, wo sich zeitlich unterschiedliche Ebenen ausbalancieren.


Als in den 90er Jahren die Chaos-Forschung in breiten Kreisen diskutiert wurde, (wieder-) entdeckten Wissenschaftler Phänomene, in denen sich Teilchen selbst rhythmisch organisieren, ohne dass es einer vorgeordneten Planung bedürfte. Rhythmus als zeitlicher Vorgang von Organisation entsteht von selbst. Es ginge darum, ihm nicht im Wege zu stehen. John Cage, in seiner Beschäftigung mit zeitlich rhythmischen Vorgängen in der Musik, schrieb an den Choreographen Merci Cunningham, dass es darum ginge, bestehende Rhythmen nicht durch Eigenmächtigkeit zu zerstören, sondern sie eher hörbar werden zu lassen. Sein radikalstes Werk diesbezüglich war bekanntlich 4’33.


In der Stille entsteht das, was der Soziologe Rosa als Resonanz bezeichnet hat. Nebulös verweist er auf die Notwendigkeit sozialer Rhythmen, die mit dem Einschwingen eine gegenseitige Resonanz ermöglichen. Genau hier müsste eine Wissenschaft ansetzen, die sehr viel sensibler die Wahrnehmung zeitlicher Phänomene und sehr viel präziser zeitliche Prozesse als eine prozessuale Balance beschreiben können: Dies ist die Aufgabe einer zukünftigen Rhythmologie. Diese Sensibilität und Präzision finden wir vor allem in den zeitlich basierten Künsten, in der Musik und im Tanz besonders.

 Neue Perspektiven - die kulturelle Rhythmologie

Der Musikwissenschaftler Hugo Riemann behauptete mit seiner im Jahr 1900 veröffentlichten Theorie der musikalischen Rhythmik und Metrik die zweite Hauptdisziplin der Tonkunst entdeckt und begründet zu haben. Dieser Versuch scheiterte; vor allem an einem Denken, das den musikalischen Zusammenhang von Motiven und Klangfortschreitungen als eigentliche Substanz der Musik behauptete und den Rhythmus als äusserlich abtat. Was Riemann tatsächlich entdeckte, war dagegen weit mehr als nur eine Theorie der Musik; er entdeckte die wahrgenommene Zeitlichkeit performativer, heute spricht man von zeitlich basierten - Künsten. Die Zeitlichkeit ist ein Phänomen, an dem die Musiktheorie vorbei schifft. Allein die Abfolge etabliert Zeitlichkeit, das Vor- und Nacheinander. Es geht primär um die Verräumlichung, bzw. Entzeitlichung zeitlicher Phänomene, um sie zu beherrschen. Henri Bergson, der französische Philosoph, der als Entdecker der Erlebniszeit (temps durée) gilt, machte dieses Phänomen der permanenten Verräumlichung im abendländischen Denken massiv bewusst. Und schliesslich begründete um 1910 der Musiktheoretiker Jaques-Dalcroze das Gebiet der Rhythmik, angetrieben durch seine Beobachtung, dass Instrumentalisten und SängerINNen sich nicht rhythmisch zur gespielten Musik bewegen können. Seitdem wurden in vielen anderen Wissenschaften Prozesse des Zeitlichen ins Zentrum gerückt. Alle diese Erkenntnisse fussen auf ein und der derselben Idee, dass sich Phänomene einzig durch ihre konkrete Zeitlichkeit begreifen lassen. Diese auf verschiedensten Gebieten praktizierten Erkenntnisse und Methoden liessen sich unter einem Dach vereinigen, das ich als Rhythmologie bezeichne.


Die Rhythmologie ist ein inter- und multidisziplinäres Aufgabengebiet, das das Wissen von Kultur, Natur-, Lebens- Wirtschaftsrhythmen untersucht und von den kleinsten Teilchen bis zu kosmischen Dimensionen reicht. Der Betrachtung dieser unterschiedlichen Phänomene ist gemeinsam ihr zeitlicher Prozess, in dem sie stattfinden. Phänomene in ihrer Zeitlichkeit zu betrachten, in ihrer jeweiligen „Eigenzeit“, um den Terminus Helga Nowotnys zu aktualisieren, ist stets in den jeweiligen Wissenschaften und Künsten ein sekundärer Faktor, der einer primären, zeitenthobenen abstrakten Betrachtung folgt. Aber in Gebieten vor allem der Chronobiologie, neuerdings auch der Chronopharmakologie wurden und werden die Fragen nach der Zeitlichkeit zentral und bedeutsam.


In erster Linie aber geht es um jene Wissenschaft in der Rhythmologie, die das Phänomen begründet hat: Die Musik. Und so augenfällig die Wahrnehmung des Rhythmus in der Musik gewesen ist und immer noch gegenwärtig ist (mehr denn je, durch Popmusik und HipHop), selbst in der Musikwissenschaft blieb die Frage nach dem Rhythmus ein sekundäres Gebiet. Nur kurzzeitig, um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert waren alle Weichen gestellt, das Phänomen ins Zentrum zu rücken. Entstanden sind monumentale Kompositionen wie Strawinskys Le sacre du printemps und das Fachgebiet der musikalischen Rhythmik, verbunden mit dem erwähnten Namen Jaques-Dalcroze. Jedoch konnten seine Nachfolgerinnen und Nachfolger dessen Erbe nur verwalten und keine neuen Impulse setzen, weshalb das Fach tendenziell stagniert. Die Rhythmologie bemüht sich um diese neuen Impulse, indem sie die Ansätze von Dalcroze weiter denkt; aber nicht nur sie. Auch Choreographen wie Laban gaben wichtige Ideen für ein Denken im Rhythmus, das die Bewegung in den Vordergrund stellt, das Werden, die Übergänge, und nicht das statische Sein.

 Rhythmologie und Kommunikation

Wenn die Urzeit menschlicher Kultur zum Argument für Entwicklungen angeführt wird, stehen die Fakten meist auf tönernen Füssen. Für den Rhythmus gilt dies in besonderer Weise, denn er wird - mythologisch oder ‚aufgeklärt’ - als ein Beginn jeglicher Entwicklung gesetzt. Roland Barthes in seinem Aufsatz ‚Zuhören‘ bemühte den Rhythmus als Beginn menschlicher Äusserung im Wechsel von Zeichen und Nichtzeichen (Ruhe, Stille, Pause, Zwischenraum etc.). Die Äusserung, verbunden mit Wandzeichnungen und Häuser bauen (sesshaft werden, ein Gebiet / Territorium abstecken) steht im engen Zusammenhang mit Kommunikation (mit Menschen, Gott, dem Universum, dem Stamm, der Gemeinschaft etc.). Hierhin gehören auch die Rauchzeichen, die Nachrichten über weite Strecken optisch übermitteln konnten, aber hierhin gehören auch neuere Techniken der Informationsvermittlung, wie etwa dem Morse-Alphabet, das mittlerweile im Kulturerbe eingetragen ist und noch zu bestimmten Anlässen funktioniert.


Rhythmus ermöglicht häufig die Kommunikation, im Wechsel zwischen Sender und Empfänger und damit verbunden als Dialog (mindestens zwei Instanzen). Besonders komplex gestaltet sich diese rhythmische Kommunikation in ‚real time‘ Abläufen. In den zeitbasierten Künsten wie Musik, Tanz und Theater (ebenso Film als non real time) ist die Kommunikation zwischen Instanzen eine sehr spannende und ästhetisch relevante Ebene. Eben hier sind Metrum und Rhythmus von entscheidender Bedeutung in der Gestaltung, wobei im zeitgenössischen Theater die Rhythmen freier und unnachvollziehbarer inszeniert werden. Ebenso in der neuen Musik, was eigentlich ein Wunderwerk der Kommunikation ist, wie in solch komplexen Klanggesten eine zeitliche Organisation präzise hergestellt werden kann (aber weder die Musikästhetik, noch die Zuhörerschaft interessiert sich für dieses Phänomen). Die neue Musik allerdings, statt Freiheiten einzuräumen, die die Ausnahmen bildeten (Cages Zufall, Lutoslawskys aleatorischer Kontrapunkt), differenzierte das Zeitsystem zu einem unglaublich feinen Instrumentarium (Stockhausens Tempo-Glissando), das den Ausführenden allerdings fast zu Zeitsklaven werden lässt. Derzeit aktuelle polytempische Musik funktioniert bei Aufführungen meist über das Abschotten und Nichthören anderer Mitspieler. Die Kommunikation bei der Aufführung wird taub. Zwei ganz unterschiedliche Formen der Kommunikation zwischen Theater und Musik, die kaum zu vermitteln sind und sich daher häufig wie feindliche Stämme gegenüber stehen. Dennoch stehen in beiden Kulturen die Zeitabläufe unter rhythmischer Gestimmtheit. Fischer-Lichtes Rhythmusbegriff in der ‚Ästhetik des Performativen‘, als zentral veranschlagt, aber nur sporadisch ausgeführt, stützt sich auf die Auffassung des Ähnlichen gegenüber dem Gleichen (Metrum). Der Rhythmusbegriff in der neuen Musik fokussiert vollständig auf die Zählbarkeit der Zeitwerte und kommt über das reine Messen nicht hinaus. Im Zwischenraum des Ungefähren und des empirisch Nachprüfbaren klafft eine immense Lücke, die gerade dasjenige ausspart, worum es beim Rhythmus in kommunikativen Prozessen geht: Die Kommunikation selbst.


Stellen wir Popmusik und Neue Musik gegenüber. Die Popmusik füttert das Publikum mit Allgemeinplätzen und Stereotypen, führt aber eben auch zu einer Nachvollziehbarkeit der Musik. Die 8 taktige Periode (oder Phrasenstruktur) nimmt einen sehr prominenten Stellenwert ein. Die Ablehnung dieses bekannten Kommunikationsmittels lehnt die neue Musik vollständig ab als ein grundsätzlich falsches Denken, da es nicht die Klänge selbst betrifft. Das ist nur nachvollziehbar bei einer Verengung der Perspektive, die wie bei Schönberg die musikalische Substanz allein im Motivischen oder Distematischen, in den entzeitlichten Tonhöhen, findet. Schon bei Bartok, einem wichtigen Repräsentanten neuer Musik, der sich um die theoretischen Grundlagen von Musik als Ethnologe verdient gemacht hat, greift dieser Ansatz nicht mehr. Rhythmus und Metrum sind substanzielle Bestandteile von Klang und Musik und daher nicht auszuschliessen. Seine asymmetrischen Metren, wesentliche Bestandteile für die zeitliche Organisation motivischen Materials, machten dies deutlich. Und von der Perspektive der Kommunikation aus gesehen, ist Rhythmus zeitliche Voraussetzung für das Erklingen von Musik überhaupt. Neue Musik und ihre Wissenschaft befinden sich in einer Aporie. Sie beklagen sich über mangelnde Wahrnehmung des Publikums, erzeugen aber selbst Strukturen, die eine Kommunikation von Sendern und Empfängern fast verunmöglichen, indem sie die wahrnehmbar zeitliche Gestalt der Musik als peripher abtun. Popmusik geht den umgekehrten Weg. Der Rhythmus mit seinem permanent präsenten Groove setzt eine Niederschwelligkeit bei der Wahrnehmung, die an Manipulation grenzt. Das Publikum goutiert es. Auch hier klafft eine Lücke der Kreativität von Rhythmus, die derzeit nur von Musik-Nischen produktiv gemacht wird.


Ganz offensichtlich treten Kommunikationsstrategien des Rhythmus bei Projekten wie ‚Rhythm is it‘ zutage. …


Spätestens an dieser Stelle, bei der Arbeit mit Jugendlichen, wird schmerzlich offensichtlich, dass es nicht darum gehen kann, einen funktionierenden Rhythmusbegriff schlicht zu übernehmen und ihn auf andere gesellschaftliche Ebenen unreflektiert zu übertragen. Die Crux dieses Projekts ist nicht, wie das Projekt abläuft, sondern was als selbstverständlich verschwiegen wird: der Rhythmus selbst.

 Rhythmologie als Zeitmanagement

Und vor allem ginge es darum, in der Rhythmologie das Wissen um den Rhythmus in allen Gebieten zu mobilisieren, um ein Bezugsnetz zu schaffen, das den Namen von inter- trans- und multidisziplinär verdient. Es geht darum, bestehende Rhythmen zu erkennen und zu analysieren, und Rhythmen zu kreieren, die bis in alle Lebensbereiche eine Rolle spielen können. Es geht, um es modern auszudrücken, um ein Zeitmanagement; verstanden als eine Form von Prozessualität, in der das Wechselspiel von Dogma und Freiheit beobachtet und eingeschätzt, aber nicht verordnet wird. Wir stehen gegenwärtig vor einer gewaltigen Herausforderung: der Weltgesundheit. Anscheinend ist die Gesellschaft und vor allem die Politik nicht in der Lage, Prozesse in Krisensituationen anzuleiten, die gleichermassen die Bedrohung wie auch die darin sich bewegende Lebenswelt zu berücksichtigen. Die Lockdown - Rhythmen sind Massnahmen ohne genügende Differenzierung und Übergänge, es sind metrische Massnahmen. Es bedarf weiterer, vielleicht anderer Werkzeuge und es bedarf eines anderen Denkens, um diese Krisen zu bewältigen. Ein wesentlicher Faktor dabei ist der gesellschaftliche Rhythmus. Rhythmus im Grossen, verstanden als Raum/Zeitmanagement.


Sicherlich, dies sind Fragen der Zukunft, Spekulationen; aber sie sind durchaus begründet und notwendig. Und was ist Vision und Forschung anderes als gut begründete Spekulation? Fragen der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reichen aber lassen sich hier sehr viel präziser und mit einem begründeten kritischen Bewusstsein stellen. Etwa die Frage zum Herzrhythmus, die jedes Lebewesen betrifft. Sind nicht auch hier ganz unterschiedliche wissenschaftliche Zugänge am Werk, je nachdem, was und wie sie sie den Herzhythmus messen? Die Medizin mit dem Stethoskop oder ECC, die Psychologie mit dem Polygraph, die Philosophie der Romantik mit der Innigkeit, die Musik als expressiv-mimetische Praxis. Ist nicht das Herz Paradigma eines Ausgleichsorgans zwischen Denken und Fühlen, zwischen physiologischen Prozessen, wie es der Mediziner Thomas Fuchs beschrieben hatte? Und gibt nicht das Herz den Groove für das Gehirn vor, in dem sich das Bewusstsein zeitlich entfaltet? Solche interdisziplinären Fragen sind Beispiele für die Notwendigkeit einer Kultur, die zeitliches Management für die Menschen und nicht an ihnen vorbei konzipiert. Menschen sind zeitliche Wesen in einer sich entwickelnden Gesellschaft. Zwei Grössenordnungen, die es im Wechselspiel zu berücksichtigen gilt. Ein Plädoyer für das Zusammenspiel von Rhythmus und Metrum, bei dem keines von beiden die Oberhand gewinnen darf, sondern stets im Spiel einer prozessualen Balance sich gegenseitig ausgleicht.


Vor allem Management ist es daher bedeutsam, eine theoretische Bestimmung vorzunehmen, nicht im Sinne einer theoretischen Verengung, sondern um eine Integrität dem Forschungsbegriff gegenüber zu gestatten. Kulturelle Rhythmologie könnte alles sein; aber was es vor allem nicht ist, ist die musikalische Rhythmik und Metrik, die sich in engen Grenzen der Zeitlichkeit und in noch engeren ideologischen Bahnen zeitlicher Symmetrie bewegt. Dennoch geht die Rhythmologie von der Musik aus als dem zentralen Moment rhythmischer Erfahrung. Rhythmus im Grossen, in der klassischen Musik noch eine hörend nachvollziehbare Grösse, indem immer weitere zeitliche Abstände symmetrisch aufeinander bezogen sind und den Zeitverlauf gliedern, ebenso nachvollziehbar in der Popmusik und ihrer zähen Achttaktigkeit, ist für eine sich fortschrittlich dünkende Musikwissenschaft obsolet geworden; verkennend dabei aber, dass es sich hier um ein Mittel der musikalischen Kommunikation handelt, das universal anwendbar ist. Daher ist - pointiert ausgedrückt - die Fortschrittlichkeit in diesem Fall erkauft durch eine unbegründet elitäre Geste, die einzig das ominös Neue, rein Individuelle gelten lässt. Dass es auf der anderen Seite problematisch ist, dieses funktionierende Tool der Achttaktigkeit als einzige Form gelten zu lassen und alles andere als womöglich umrhythmisch zu bezeichnen, ist dabei nicht weniger prekär. Es ginge darum, Vielfältigkeit und Differenzierungsvermögen zu entwickeln, ohne dabei grundlegende und funktionierende Phänomene aus den Augen zu verlieren.


Aber Rhythmus ist vor allem auch eine Tätigkeit und die Fähigkeit, Rhythmen präzise ausführen zu können, ist universal und führt zu einer Sensibilität, die zeitliche Prozesse ins Bewusstsein bringt. Interessant etwa eine Anmerkung des Dirigenten Daniel Barenboim, der das Problem von politischen Sitzungen grundsätzlich benannte als ein Problem von Zeitmanagement. Wie Kurzstreckenläufer sich schnell verausgaben und für die längere Strecke keine Puste mehr haben, so verpuffen die Energien in Sitzungen, um am Ende aufgrund mangelnder Ausdauer zu keinen oder zu mangelhaften Ergebnissen zu kommen. Wäre es nicht katastrophal sich auszumalen, dass schlecht durchdachte Gesetze Ergebnis einer rhythmisch unzureichend geplanten Sitzung geschuldet sind?

 Arbeit am Rhythmus - anstatt Arbeit und Rhythmus

Man könnte ewig feilen an der Gestalt eines Rhythmus, an der Länge seiner einzelnen Proportionen, an der Verbindung und Trennung der einzelnen Impulse, ihrer Beschaffenheit im Gleichgewicht - Rhythmus ist Liebe zum Detail, auch wenn es so scheint, dass dort alles mit dem Hammer produziert sei. Aber all die Fragen von Proportionen, von Farbzusammensetzungen, von der Gestaltung Vorder- und Hintergrund, all das hat mit Rhythmus zu tun und wird von Praktikern - meist intuitiv - inszeniert.


Die Herstellung von Rhythmus in seiner elementarsten Gestalt ist das Trommeln, ein Akt der Glückseligkeit, der Kommunikation. Was wissen wir von den Völkern, die gemeinsames Trommeln praktizieren, und denen wir materielle Armut unterstellen, während wir Mitleid empfinden und nicht trommeln können?


Rhythmus ist vor allem Kommunikation, Genauigkeit, Übereinstimmung. Wenn die Gruppe trommelt und wirklich übereinstimmt, dann entsteht Etwas, dann wird Etwas anwesend, als stände der Rhythmus wie ein Geist personifiziert im Raum. Der Rhythmus macht das Abwesende anwesend, während die Melodie das Abwesende permanent als Abwesendes herbei sehnt und betrauert. Musik befindet sich immer an der Grenze zu einer anderen Welt, der Klangwelt, sie beschreibt eine Schwelle: Mit der Melodie, die das Christentum im kontrapunktischen Denken so in den Vordergrund rückte und den Rhythmus aus dem Fokus drängte - ausgenommen die frühen Notationen und Gesänge des Perotin und der isorhythmischen Motette.


Aber so sehr Rhythmus im Detail wirkt, er wirkt vor allem auch im Grossen. Die Popmusik atmet noch die Archaik einer grossen Mozart Sinfonie, wie die ‚Jupiter‘, die den Rhythmus zu einer werkumspannenden Kategorie machte. Und genauso funktioniert der Rhythmus, er pulst von der kleinsten Einheit bis in die endlose Spanne von Jahrmillionen, jeweils auf verschiedenen Ebenen, wie die repetitive Musik Steve Reichs diese Beziehung von Geschwindigkeit im Mikropuls und der langsamen Prozesse der Melodiebildung erfahrbar macht. Es liegt an uns, welche Pulsebenen wir gerne aktivieren möchten: einen Moment, Bruchteil einer Sekunde, die Universalität eines Tagesablaufs, Ulysses von James Joyce, den Rhythmus eines ganzen Lebens (Marcel Proust), die kosmische Bewegung von Ewigkeit, Messiaens Quartett für das Ende der Zeit /Quatuor pour la fin du temps -. Und genau diese Frage stellt die kulturelle Rhythmologie.

 Abschliessende Bestimmung: Kulturelle Rhythmologie und prozessuale Balance

Ökonomie und Ethnologie hatten zu Ende des 19. Jahrhunderts den Stein ins Rollen gebracht. Die ökonomische Theorie, Arbeit und Spiel im Rhythmus zu verbinden, schaute Karl Bücher von den - so genannten - Naturvölkern ab. Was daraus resultierte, wissen wir heute besser als damals. Fordismus und Postfordismus spannen die Individuen in einen Zeitablauf von Maschinen, denen die Menschen sich unterzuordnen haben. Zwar haben sich die Maschinen entwickelt und die Rhythmen verfeinert, aber an der Erkenntnis prozessual zeitlicher Abläufe hat sich im Diktat nicht viel geändert. Es ist umfassender und unfassbarer geworden, in Gestalt der Algorithmen. Dem gegenüber stehen Theorien in der Soziologie, die dem Maschinenzeitalter den individuellen und künstlerischen Prozess entgegen setzen. Rosas erwähnte Theorie gesellschaftlicher Resonanz und aktuelle interdisziplinäre Forschungen, wie sie in dem Buch Synchronisation - Rhythmus - Resonanz von der Physik bis zur Psychotherapie versucht werden, schliesslich die Rhythmologie Pascal Michons, die Verbindungen zwischen ästhetischem und gesellschaftlichem Denken in ihren historischen Entwicklungen ausfindig macht, sind aktuellste Beispiele, wo eingefordert wird, dass sich kommunikative Prozesse in gesellschaftlichen Rhythmen gegenseitig einschwingen müssten. Diese Fragen stellen grosse hypothetische Anleihen. Und in dieses Vakuum zwischen verordneter Maschinenrhythmik der Ökonomie und der utopisch selbstbestimmten Welt der Soziologie formiert sich die kulturelle Rhythmologie als ein Bindeglied von Sensibilität, Präzision, Flexibilität und analytischer Tiefenschärfe, indem sie sich auf die Suche begibt nach interdisziplinären prozessualen Balancen.

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